Projektruinen in der Herzblutwüste (Daily Dueck 16)

„Als Kaiser Karl V. Granada besuchte, war er außer sich vor Entzücken. Er beschloss augenblicklich, hier wohnen zu wollen. Da begannen alle mit dem prächtigen Bau, den Sie hier ganz unfertig sehen. Leider hat Karl so viel reisen müssen wie alle tüchtigen Herren noch heute. Und so ist er nie wiedergekommen. Das müssen Sie verstehen.“ – „Ich habe getöpfert, gebatikt und sogar ikebanalisiert. Leider merke ich immer schnell, dass es sofort in Arbeit ausartet. Das liegt daran, dass ich kein Talent habe. Ich bin traurig, weil mir partout nichts zufliegen will. Das ist ungerecht.“

Im Jahr 2005 haben wir eine wunderbare Rundreise durch Andalusien erleben dürfen. Da hörte ich von Karl V. Ich dachte traurig, dass es in der ganzen Welt nur so von Projektruinen wimmelt.
Wikipedia und der Reiseführer sagen: Karl V. plante, Granada zum Regierungssitz zu machen. Deshalb ließ er einen großen Renaissancepalast auf der Alhambra errichten. Da sich auf Grund der Entdeckung Amerikas die Interessensschwerpunkte des Königreiches verlagerten, ließ man die Residenzpläne fallen. Der Palast von Karl V. wurde nie fertig gestellt.
Und dieselben Stimmen melden zu einem anderen Schloss aus unserem Urlaub 2004: Das Schloss Herrenchiemsee, das ursprünglich ein exaktes Abbild von Versailles werden sollte, besteht allerdings nur aus dem Haupttrakt, da Ludwig II. während der Bauzeit das Geld ausgegangen war und er vor der Vollendung verstarb. Im Schloss wechseln prachtvoll ausgestattete Räume wie der riesige Spiegelsaal, das Treppenhaus und das Prunkschlafzimmer mit unverputzten, leeren Räumen, die aufgrund des Geldmangels nicht mehr wie geplant fertig gestellt werden konnten. In mehreren unvollendeten Räumen des Südflügels ist ein König-Ludwig-II.-Museum untergebracht. Ludwig II. wollte das Schloss niemals der Öffentlichkeit zugänglich machen; es sollte einzig und allein ihm als privates Refugium dienen, in das er sich vor dem Alltag in seine Traumwelten zurückziehen konnte.

Wenigstens haben wir jetzt eine Menge Welt-Kulturerbe. Denn einige Zimmer sind ja doch fertig geworden, in Neuschwanstein und anderswo. Bei den meisten Projekten aber beginnt man alle Zimmer gleichzeitig und beendet keines. Das ergibt eine vollendete Ruine, aus der dann neue Erbauer manchmal noch die Steine für ein ganz neues Projekt stehlen.

„Wie haben Sie es denn so irrwitzig schnell geschafft, solche wundervollen konstruktiven Pläne zur Beseitigung unserer lebensbedrohenden Produktionsprobleme in der Fabrik zu erarbeiten?“ – „Ich habe mich erinnert, dass wir seit langem jedes Jahr solche Pläne machen müssen! Da habe ich jemanden aus dem Stab um seinen Plan von vor vier Jahren gebeten, für den er damals befördert worden ist. Ich denke, dass ich jetzt auch die Treppe hoch falle.“ – „Bestimmt, das sehe ich ebenfalls so. Ich freue mich sehr für Sie. Es ist eine glänzende Idee, Wissen kostengünstig wiederzuverwenden. Ich werde Ihr Projekt als Success Story für mein eigenes Knowledge-Management-Projekt zitieren, darf ich?“ – „Aber ja, dann werden Sie doch sicher befördert!“ – „Gewiss doch, in schlechten Zeiten macht Arbeit Spaß – man hat mit allem sofortigen Erfolg, weil die Ängstlichen nach jedem Rettungsanker greifen. Es muss unter Druck nur sehr schnell gehen und einen neuen Namen haben. Statt Abschreiben oder Ideenklau heißt es jetzt Knowledge-Management!“ – „Wenn ich befördert bin, gründe ich eine Taskforce, die einen originellen neuen Firmenklingelton mit Paris Hilton erarbeitet. Corporate Ring Tone heißt die neue Heilsleere. Das senkt die Arbeitslosigkeit, obwohl Hartz V. nie mehr wieder kommt.“ – „Oh, geht es denn mit der Arbeitslosigkeit nicht mehr aufwärts?“ – „Doch, aber Hartz V. hat auf Grund von neuen Entdeckungen in Südamerika seine Interessenschwerpunkte verlagert. Wir planen heimlich eine Agenda 2020, aber wir fürchten, andere wollen uns mit einer Agenda 2030 übertrumpfen. Die Zahl 2025 haben wir als Warenzeichen registriert, wir dachten damals aber nicht, dass sie so weit gehen würden. Aber sie wagen 2030. Es wird kitzlig.“

Überall fast mutwillig provozierte Projektruinen. Woran liegt das?
Ich bin gar nicht negativ, denken Sie das ja nicht. Die großen Beratungsfirmen zählen oft durch, wie viele Projekte von allen „erfolgreich“ sind. Wie immer sie das zählen – jede ernsthafte Schätzung ist kleiner als 25 Prozent. Denken Sie an die normale Politik, an die lokalen Planungen von Umgehungsstraßen oder Ihre eigenen häuslichen Versuche, mehr Sport zu treiben oder eine Diät durchzuhalten. „Ich sollte mal wieder lesen, das Buch habe ich schon. Ich habe auf Langlaufski-Outfits gespart, alles noch neu. Ich würde gerne das Abi nachholen. Ich mache immer nur die ersten drei Wochen in der VHS, dann versteh ich es nicht mehr ohne Arbeit. Vielleicht mache ich einen Ebay-Shop auf oder ich melde mich bei Dieter Bohlen oder Heidi Klum.“ Im Beruf schafft es kein Projekt schneller als der Manager wechselt. Immer ist Wahltermin. Wir sind überdrüssig und unlustig.

Es ist Herzblutwüste.
Ohne Herzblut flackert nur kurz die Freude eines immer wieder neuen Neubeginns. Wer Herzblut hat, funktioniert seine Sehnsucht zum Hobby um, zu Leidenschaft. Mit Herzblut wird von einem Haus nicht nur geträumt, sondern von dem Tag, an dem stolz die letzte Rate bezahlt wird. Herzblut gibt Kraft und setzt alles durch. Jeder, der herzlich will, bewegt Berge. Wer will, nimmt ab und hört mit dem Rauchen auf. Wer will, schafft noch alle Ehrenämter nebenbei. Die anderen fragen: „Wie schaffst du das alles?“ Die Antwort ist Herzblut. Konzentration. Vorfreude. Fokus. Heitere Opferbereitschaft. Beharrlichkeit. Stetigkeit. Unverdrossenheit. Wohlsein auf dem Weg.

Es gibt sehr viel mehr Projektruinen als Beispiele von Herzblutvergießen für nichts. Denken Sie manchmal an die total unbegabte Möchtegern-Operndiva, der man ein eigenes Opernhaus baute, damit sie auftreten konnte? So krass wird nicht oft das Ziel verfehlt, wenn es mit ganzem Herzen verfolgt wird.

„Ein großer Teil des Fortschrittes ist es schon, fortschreiten zu wollen. Wo dieser Wille lebendig ist, ist auch der Weg frei.“ (Seneca)

Das halbe Herz ist gefangen. Das ganze Herz ist frei.

Ich wüsste gar zu gern, wie ich Herzen ganz machen kann.

Gunter Dueck

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