Über die typische Sinn-Blogger-Psyche oder über „INFP“ (Daily Dueck 157, Januar 2012)

Was hat Sinn? Darum geht es in vielen Blogs. Was ist gerecht? Ethisch? Wertvoll? Alles wird unter die Lupe genommen, es wird gestritten und sinngehechelt. Mal sind alle empört und mal ist es allen aus der Seele gesprochen. Dieses Gefühl, „es ist mir aus der Seele gesprochen“ – dieses tiefwärmende Gefühl scheint das höchste und heiligste zu sein. Das sieht aus wie INFP, oder?

Vor gut zehn Jahren schrieb ich mein erstes Buch „Wild Duck“ über die verschiedenen Arten menschlicher Psychen und deren täglichen Streit in Familie, Schule und Beruf. Daraus erwuchs dann ein Gesamtwerk aus fünf Bänden, die die artegerechte Haltung von Menschen thematisierten. Ich studierte die menschlichen Typen nach der Lehre C. G. Jungs, die später Eingang in psychologische Tests fanden (Keirsey, MBTI und viele andere). Statistiken der Testergebnisse vieler Menschen zeigten, dass viele Berufe nach psychischer Grundhaltung gewählt werden – das ist ja eigentlich klar, aber eine Statistik ist doch beruhigender, oder? Statistiken zeigen zum Beispiel, dass Leiter von Schulen in etwa zu zwei Dritteln „Ordnungshüter“ sind („jeder hat die Pflicht, wertvoll zu sein“) und einem Drittel „Menschheitsverbesserer“ („jeder Mensch ist wertvoll“).
Ich habe damals etliche Kolumnen über die Psyche der Techies verfasst und auf meiner Homepage gebeten, mir Testergebnisse zu schicken. Das haben so um das Jahr 2005 herum über 1000 Informatiker, Ingenieure etc. getan… Seitdem tröpfeln nur noch alle paar Tage Antworten herein. Dann kam meine Rede auf der re:publica im April 2010. Die verlockte viele Tausend Besucher, sich meine Homepage anzusehen, und etwa 250 von ihnen schickten mir in der zweiten Aprilhälfte ihre Testergebnisse: INFP, INFP, INFP… Ich staunte statistisch gesehen. Das Resultat ist an sich nicht erstaunlich, aber immer INFP? Konkret: Der Keirsey/MBTI-Test hat 16 verschiedene mögliche Ergebnisse! Und bei den Einsendungen nach der re:publica lauteten über 50 Prozent INFP. Dieser „Typ“ ist dabei ganz selten, man schätzt seine Häufigkeit um die drei Prozent, ich habe auch schon Schätzungen von einem Prozent gesehen. Er kommt bei Frauen deutlich häufiger vor als bei Männern.

Was bedeutet INFP? INFP = Introvertiert-Intuitiv-Feeling-„flexibel, schwach chaotisch, impulsfolgend, abwechslungsliebend“. Wollen Sie es genau wissen? Googeln sie einfach INFP oder machen Sie den Test gleich selbst! Hier ist eine ganz gute Beschreibung, finde ich (englisch, sorry, Sie finden im Netz auch viele deutsche Charakteristiken):
INFP Charakterisierung

Die Beschreibung ist schön kurz und bündig, ich weiß nur nicht genau, was „original dressing style“ heißt – ich glaube, es ist so etwas wie Selbstgestricktes oder Kleinstboutiquisches in schwarz-grün-braun-lila gemeint, ganz bio und vegetarisch. INFPs sind in Menschenmengen eher unauffällig und kommen oft nicht zu Wort, da fressen sie gepressten Zorn über die Blasenpräsentierer in sich hinein, bis sie schließlich doch etwas dazu sagen MÜSSEN, was dann aber schon von fortgeschrittener Gesichtsröte durchzogen ist. Na klar, für andere meckern sie einfach ziemlich viel. Deshalb mögen INFPs lieber private Gespräche zwischen Ich und Du, wo das Zu-Wort-Kommen-Problem des Zaunkönigs unter den Vögeln nicht vorkommt und nur noch Sinnvolles mit dem anderen INFP besprochen werden kann. Und folglich, so sagt ja auch die Beschreibung, haben sie oft den Wunsch, sich wunderbar schriftlich auszudrücken.

INFPs sind die geborenen Blogger! Im Web ist Sinn satt!

So, und jetzt kommt ein Wassertsunami in den Wein: INFPs sind in der Bevölkerung selten, das sagte ich schon, und es steht auch neben der Beschreibung auf der empfohlenen Webseite. Und INFPs diskutieren den Sinn am liebsten unter sich.

Das muss nichts Schlimmes bedeuten, wenn das Bloggen so große Seelenfreude bereitet. Wenn aber ein INFP-Blogger WIRKUNG erzeugen will, muss er die Psyche der lauten sinnsorgloseren Anderen beeindrucken, so dass sie Follower werden und liken. Dann muss ein INFP in die feindliche Welt, dort aber gibt es viele auch feindlich-befremdliche Diskussionen, in denen fast keine Antwort wärmt oder „aus der Seele spricht“. Da wird der Zaunkönig traurig, dass der Adler ihn nicht hört und die Spatzen ihn laut verspotten. Da fliegt er wieder ins Unterholz, ins Web, wo die Blogger sind.

Die Blogger KENNEN den Sinn und die wertvolle Zukunft. Gleichzeitig fühlen sie sich unverstanden, nicht ernst genommen und wirkungslos in der Masse der Menschen. Diese Problematik ist eng verbunden mit der introvertierten Sinn-Psyche. Sie bringt Sinn hervor, preist ihn schriftlich oder künstlerisch oft erfolgreich an, verkauft ihn aber nicht an Kunden. Bloggen ist oft wie eine wertvolle Ausstellung von Wertvollem, das aber niemand im Wohnzimmer haben will. Dort aber gehört es hin. Hey, Blogger, geht mit Eurem Licht in Platons Höhle und zeigt es den im Dunkel Angeketteten. Macht aus Sinn eine Praxis! Predigt nicht nur Ethik, sondern bildet eine breite Kultur! Überschreitet den Rubikon zu den normalen Menschen!

Ich blogge ja auch… Ich bin aber mehr Techie. Ich erfinde oft etwas, was keiner kauft. Ich stelle Visionen aus, die keiner im Wohnzimmer haben will. Ich habe mein Problem schon vor langer Zeit erkannt und mir Mühe gegeben… Erfinder leiden unter Technology Enlightenment, nicht so sehr unter Sinnsehnsucht. Auch sie überschreiten nur selten den Rubikon zur Innovation (Innovation ist eine Erfindung, die wirklich gekauft wird). Das war schwer für mich, zur Tat zu schreiten, elend schwer, und ist immer noch schwer… Ich habe noch immer die Worte eines Top-Managers über die Freiheit der Forschung im Ohr: „You know, there is a fine line between independence and irrelevance.“ Es hat etwas mit der Schullektüre von Raabes „Stopfkuchen“ zu tun: „Geh heraus aus deinem Kasten.“ Das haben die amerikanischen Managerschulen geschwind adaptiert, es heißt in Neudeutsch: „Leave your comfort zone.“ Dazu rufe ich hiermit auf. Lassen Sie uns bloggen, was nicht nur gehört wird, sondern „gekauft“. Hören wir auf, zu sehr Fundis zu sein – Realos braucht die Welt. Viele.

Gunter Dueck

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