Links im Sinnraum
Kaum noch Ganzes im Meer von Portfolien von Einzelnem – oder ist das unsere Freiheit? (Daily Dueck 155, Dezember 2011)
Einst waren wir den Parteien treu, heute stimmen wir allenfalls mit Einzelpolitikern „überein“. Wir sind Fan Einzelner, nicht mehr Anhänger eines Ganzen. Wir kaufen Produkte, wie wir sie einzeln sehen, nicht mehr so sehr nach dem erzeugenden Unternehmen. Woran liegt das? Vereinzelt das Internet für uns durch die Suchmaschinen ein Ganzes in Menschen oder Dinge? Oder sind die Parteien und Unternehmen auf dem Irrweg?
Ich habe das Gefühl, dass das Wort „Portfolio“ aus dem Beraterwortschatz eine zentrale Vorstellung erzeugt. Firmen haben ein Portfolio von verschiedenen Marken, Parteien haben ein Portfolio von derzeitigen Positionen und Standpunkten. Die Markenprodukte eines Unternehmens werden von einem ganzen Portfolio von Zuliefer- und Produktionsfirmen hergestellt, die Positionen von Politikern von Agenturen, Beratern, Räten, Ausschüssen, Rechtsanwaltskanzleien, Ghostwritern und so weiter. Die Unternehmen sagen: „Wir bieten das und das an.“ Die Parteien sagen: „Unsere Politikrichtung konstituiert sich aus folgenden Einzelpositionen.“ Immer sind es „Portfolios aus Einzelposten“.
Wir Kunden oder Wähler auf der anderen Seite haben früher ein Ganzes gewählt oder gekauft. Wir haben Tütensuppen nur von Maggi gekauft – alle! Oder eben alle nur von Knorr! Nicht gemischt! Wir waren „für Maggi“ oder „für Knorr“, wir waren Stammwähler der CDU, SPD usw., nicht gemischt mal so oder so! Wir waren bei unseren Diskussionen auch immer sehr polar, entweder immer rechts oder immer links, nicht durcheinander.
Was hat sich verändert? Unsere Einzelpositionen sind wie einzelne
Produkte, nach denen wir im Internet suchen. Wir geben Produktnamen
ein, Autoren oder Titel, und NICHT mehr zum Beispiel den Namen eines
Verlages. Als es noch kein Amazon gab, mussten wir uns ganz ohne Internet
einen Überblick über die Bucherscheinungen verschaffen.
Ich bin damals alle halbe Jahre in eine große Buchhandlung gegangen
und habe alle mir wichtigen Taschenbuchkataloge mitgenommen. Manche
Verlage boten wundervolle Bücher, andere nur flachen Kram. Ich
kannte die Verlage nach ihrem Charakter, wusste, wofür sie standen
und was ich von Ihnen zu erwarten hatte.
Das hat mit Google oder Amazon aufgehört. Ich suche jetzt direkt
nach dem, was ich will. Ich nehme nicht mehr an, dass ein Verlag als
Ganzes mich als Leser versteht und für meinen Geschmack arbeitet.
Ich sehe den Buchmarkt als ein Portfolio von Büchern oder Autoren
an. Die Verlage stehen für mich nicht mehr als Orientierungspunkte
im Meer der Lesemöglichkeiten. Ist das bei Ihnen anders? Suchen
Sie nach einem Verlag bei Amazon?
Wir identifizieren uns allenfalls mit Autoren, Stars, Künstlern… Wir suchen nur noch das Einzelne und Punktuelle und bekommen es auch – einzelne Bücher, Videos, CDs.
Wir als Kunde wühlen nur noch im Portfolio, die Unternehmen
bieten nur noch ein Portfolio. Die Größe „der für
uns größten brauchbaren integrierten Sinneinheit“
sinkt. Wir hören immer weniger auf ganze Kirchen, Markenserien,
Parteien – wir stückeln uns selbst zusammen. Wir sind kaum
noch Jünger der Produkte bestimmter Unternehmen (Apple zum Beispiel
ist da gegenwärtig eine Ausnahme). Wir als Wähler sehen
nur noch die Einzelpositionen zu Griechenland, zum Euro, zum Irak
oder zum Spitzensteuersatz. Wir selbst bilden uns Meinungen aus einem
angebotenen Portfolio. Wir nehmen nicht mehr an, dass eine einzige
Partei ganz für uns steht und wir für sie.
Wir picken uns überall wie bei Amazon und Google das beste heraus,
von der einen Religion ein bisschen, von der anderen auch. Wir selbst
integrieren das Universum einzeln für uns selbst. Wenn wir das
nicht können und überfordert sind, eine eigene Identität
zu bilden, werden wir nicht mehr Anhänger einer großen
Bewegung, sondern eher Fan eines einzelnen Idols wie Obama, zu Guttenberg,
oder…oder…so viele Idole werden ja leider nicht angeboten,
oder? Idole zur Identifikation sind heute die angesagten Fertiglösungen,
so wie es früher Kirchen oder Parteien waren.
Die Chancen, uns zu verzetteln, nehmen zu. Die Integration allen
Einzelnen wird schwerer. Es gibt kaum noch anerkannte Leitsterne oder
allgemein als tauglich gesehene Lebenslehren. Wir haben die volle
Freiheit, uns selbst aus einem unendlichen Portfolio zu gestalten.
Diese Freiheit ist schön – bringen wir aber auch die Fähigkeiten
mit, frei zu sein? Haben wir wenigstens das Bewusstsein, jetzt für
unsere Entwicklung höchstselbst zuständig zu sein? Und dass
dann die entsprechenden Fähigkeiten dazu haben müssen? Wissen
wir überhaupt schon, dass wir frei sind? Manchmal denke ich,
dass wir das persönliche Integrationsproblem allen Einzelnen
in uns noch nicht als das Unsrige verstanden oder gar akzeptiert haben.
Das höre ich aus dem Dauergejammer wie „Die Komplexität
nimmt zu.“ Oder „Es wird immer schwieriger, in der Überfülle
das Wichtige zu finden.“ Was wollen wir denn? Freiheit oder
Einfügungspflichten in eine fertig vorgegebene Menschenvorlage?
Vielleicht doch wieder mehr „Vorlage“ in Form eine Ethik,
wie wir sie in der Ökonomie vermissen?