Schande über die S21-Volksabstimmungsfrage! (Daily Dueck 153, November 2011)

Heute habe ich gelesen, worüber ich demnächst bei der Volksabstimmung in Baden-Württemberg als Volksteil befinden soll. Die Gretchenfrage auf dem Stimmzettel lautet: „Stimmen Sie der Gesetzesvorlage ‚Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S 21-Kündigungsgesetz)‘ zu?“
Schande über die Politiker! Jetzt machen auch die Grünen so etwas, und zwar sofort, nachdem sie das erste Mal die Macht im Lande haben.

Wir wollen eine Zukunft, die uns Perspektiven gibt, integre Politiker, die uns dahin leiten, transparente Politik und Offenheit, damit wir auch über das Internet als Bürger partizipieren können. Das Stuttgarter Bahnhofsprojekt hat zu einem entsetzlichen undurchschaubaren Interessengewühl geführt, zu massiven Machtverschiebungen in den Parteien, zu blutigen Auseinandersetzungen und zu allgemeiner hektischer Erregtheit, die auch der Schlichter Heiner Geißler nicht beruhigen konnte, worauf er schließlich alles noch mit eigenen Vorschlägen toppte.
Am Ende retten sich die Politiker in eine Volksabstimmung, in der ich von Waldhilsbach aus absolut fachkundig über die Probleme der Einwohner Stuttgarts entscheiden soll. Da fällt mir ein, dass wir in Waldhilsbach eine vielleicht 600 Meter lange, ganz nigelnagelneue Straße nach Bammental gesperrt halten müssen, weil die Bammentaler es nicht mögen, dass wir zum Einkaufen heruntergefahren kommen. Wir müssen uns jetzt weiträumig mit dem Auto anschleichen und vier oder fünf Kilometer lang CO2 erzeugen. Wenn man also schon das ganze Volk über den Bahnhof in Stuttgart abstimmen lässt, warum stellt man dann nicht in einem Abwasch noch ein zweite Frage über Waldhilsbach?
Inhaltlich geht es simpel um „Schranke weg oder nicht“. Das ist natürlich für einen Stimmzettel zu volksgewöhnlich ausgedrückt. Ich muss eine andere Formulierung wählen. Ich will ja eigentlich nicht, dass darüber abgestimmt wird, sondern ich will, dass die Schranke wegkommt. Ich muss also die Frage so schlau stellen, dass sie alle Leute so sehr verwirrt, dass sie für mich stimmen. Ich schaue einmal, da gibt es doch bestimmt Gemeindeprotokolle. Da werde ich sicher fündig. Mir schwebt im Entwurf so etwas vor wie:

„Stimmen Sie zu, dass nach dem Streit über die teuren Idylle-Ferienhäuser gemäß Amtsblatt 34///http/KzAktenzeichen (kann von der Bevölkerung nach Anmeldung im Zentralrathaus in RNK-ZK-FL eingesehen werden, morgens von 6 bis 7 Uhr, Schlüssel an der Tankstelle ausleihen, ist noch keiner an der Arbeit) Klö##RT76gbBBBFF eine Maßnahme Schranketodauswegtrampel nach §§ 56z EStgVG rechtens nach 5000 Seiten Streitprotokoll in der noch ungenehmigten…“
Toll, oder? Das Problem ist, dass Bammental viel mehr Bürger hat als Waldhilsbach. Wenn nur die zwei Gemeinden abstimmen, bleibt die Schranke. Wenn aber überhaupt keiner die Frage versteht, dann geht die Abstimmung bei normaler Dummheit/Intelligenz fast genau 50 zu 50 aus. Dann habe ich also eine Erfolgschance von 50 Prozent, und das, obwohl ich einen kläglichen Minderheitenstandpunkt habe!


Ich schreibe mich in Rage. So eine Volksabstimmung muss (das werden die Politiker bestimmt sagen) rechtssicher sein, also darf sie offenbar so intransparent gemacht werden, wie es sich ein Politiker nur wünschen kann. Ich will gar nicht so sehr auf der Unverständlichkeit von juristisch versierten Menschen herumhacken, nein! Ich finde solche Fragestellungen bei Volksabstimmungen unethisch und manipulativ.
Da feilen offensichtlich Politiker aller Seiten an Fragwürdigkeitsformen, die Vorteile bei der Abstimmung bringen, oder? Jeder normale Mensch erwartet „Bist du für S21? Ja? Nein?“ Nun aber muss man Nein stimmen, wenn man bei der erwarteten „Für S21?“-Frage mit Ja antworten möchte.

Brauchen wir jetzt vereidigte unabhängige Beratungsstellen zu Aufklärung der Bürger über den Inhalt der Abstimmungsfragen? Ich werde bald 60, da weiß ich ja schon, dass ich irgendwann Helfer im Altersheim benötige, die für mich das Richtige auf den Wahlzetteln ankreuzen! Aber jetzt sind wir allesamt auf solche Hilfe angewiesen! Jubeln jetzt die Unklarpolitiker? „Endlich ist die Schranke zwischen den Wissenden und Unwissenden (nicht zwischen Waldhilsbach und Bammental) gefallen! Alle stehen gemeinsam gleich blöd vor denselben unverständlichen Fragen!“

Die Piratenpartei fordert Transparenz, Offenheit und Klarheit. Sie ist noch zu sehr „Fundi“, hat noch kein richtiges „Realo“-Programm, finde ich, aber wir fangen an, uns langsam in die gezeigte Richtung zu sehnen, oder?

Gunter Dueck

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