Leitlosigkeit in Deutschland – durch Tagesdenken (Daily Dueck 152, Oktober 2011)

Wer einen Charakter hat, handelt aus festen eigenen Prinzipien, Visionen und Überzeugungen heraus. Für andere ist ein Charakter transparent und in sich konsistent. Wir wissen, wie ein bestimmter Charakter handelt und denkt. Natürlich hat das einen Preis, „der Mensch ist in seiner Persönlichkeit gefangen“, er ist nicht mehr wirklich frei, sondern an sich selbst gebunden. Etwas in ihm leitet ihn.

Ein Charakter ist wie die Integration aller gefundenen Antworten zu einem Ganzen. Eine Persönlichkeit mit Charakter muss nicht mehr nach Antworten auf jede Frage suchen. Sie ruht schon in ihren gefundenen Antworten. Der „Konservative“, der „Heilige“, der „Arbeiterführer“, der „Grundlagenforscher“ oder neuerdings der „Pirat“ sind so ein System von Antworten oder Leitlinien.

Diese Leitlinien gehen uns verloren. Wir beklagen die charakterlose Politik und das charakterlose Management. Sie kommen uns nicht wie „integrierte Wertesysteme“ vor, sie bestehen fast aus lauter separaten Einzelversuchen, einen Vorteil zu erhaschen oder irgendwie zu „optimieren“. Wir fühlen, dass wir das nicht wollen, wir spüren, dass wir „so etwas“ nicht mit Vertrauen sehen können.

Was geschieht da? Ich glaube, ich kann eine Antwort geben. Es ist nicht mehr üblich, aus einem Charakter oder einer ganzen Persönlichkeit heraus zu agieren. Es ist normal geworden, sich in jeder einzelnen Tagesfrage neu „zu positionieren“. Jeden Tag denken unsere Politiker, Manager oder Priester nach, wie sie zum Euro, zu Griechenland, zum Zölibat, zu Frauen im Management, zu Burnout, Libyen, Ägypten, Facebook, Steuern, Elektroautos oder PKW-Maut stehen. Sie positionieren sich. In jeder Einzelfrage versuchen sie eine immer neue Antwort, die am besten gut ist und gleichzeitig jetzt gerade den Applaus der Mehrheit findet. Sie geben ihre Antworten nicht mehr aus einem nachhaltig getragenen Ganzen (Parteiprogramm, Sinnverständnis, Haltung) heraus, sondern stets neu – dabei immer auf die Mehrheit und den Applaus schielend. Sie fühlen sich beim Geben der Antwort frei von einem Charaktergefängnis. Jeden Morgen suchen sie mit frischer Logik einen Weg zur besten Antwort.

Wie wirkt jemand, der sich jeden Tag zeitnah positioniert, auf einen, der einen festen Charakter hat? Wie wirkt ein von allen langfristigen Glaubensgrundsätzen freier Demokrat auf eine normale deutsche Persönlichkeit, einen sparsamen Württemberger, einen knorrigen niedersächsischen Bauer, einen begeisterten Erzieher oder eine junge Informatikstudentin? Die HABEN in der Regel einen Charakter, also ein leitendes Ganzes in sich. Sie hören sich als solche die Tagesantworten der auf Applaus schielenden Positionierer an und stellen fest, dass sie zwar oft dazu nicken können, aber ebenso häufig ganz und gar nicht zustimmen – je nachdem, wie der Positionierer sich gerade diesmal positioniert. Mal kann man nicken, mal nicht – jeden Tag neu. Das flößt einem normalen konsistenten Bürgercharakter Misstrauen ein. Ist das gut, wenn jemand anderes über relativ kurze Zeit verschiedene Antworten gibt, also etwa für Atomkraft ist und dann dagegen oder für den Kampf in Libyen ist und dann doch lieber nicht?

Kurz: Wenn sich die „da oben“ redlich und ein bisschen opportunistisch im Tagesdenken üben, können wir sehr oft nur den Kopf schütteln. Wir erkennen nicht mehr, welches Ganze die da oben antreibt oder aus welchem Kern heraus sie agieren. Wir wissen, dass sie sich ernsthaft bemühen, aber es fühlt sich so an, als wären sie charakterlos. Die da oben sind nicht mehr Christdemokraten, Sozialdemokraten, Sozialisten oder Unternehmen alten Schlages. Sie sind auf Tagesposition.
Die Politiker und Manager sind also nicht charakterlos, nein! Aber sie agieren im Tagesdenken nicht mehr als Charakter. Sie haben noch einen Charakter, aber man nimmt ihn nicht mehr wahr („Ich habe den Oberboss mit seinem Kind beim Fußball getroffen. Ich war zu Donner gerührt, weil ich sah, dass er ein Mensch ist.“). Das Tagesgeschehen, das Tagesgeschäft, das Fehlen einer Strategie oder einer Vision frisst die da oben auf. Das Ziel, am meisten Stimmen, Geld, Kollekte oder Applaus einzusammeln, ist kein solches, das Charakter verleiht, sondern eines, das zerreißt, zersplittert, kompartmentalisiert und stresst.

Ein normaler deutscher Charakter wünscht sich eine Partei, die hauptsächlich, also in den überwiegenden Antworten und Aktionen, nach seiner Seele agiert. Ein Arbeitnehmer wünscht sich einen Chef, der ihn stolzgeschwellt zur Arbeit gehen lässt. Christen wünschen sich Bischöfe, die im Kernsinne Jesu ein lebenstaugliches Leben predigen. Wer einen Charakter hat, wünscht sich dafür eine Heimat, nicht ein dauerndes Umziehen in Lebensabschnittsansichten und Positionen.
Leben wir nun mit Jesus oder nicht? Mit Schulden oder nicht? Mit Macht oder Transparenz? Mit Atom oder nicht? Mit Hochbildung oder nicht?

Nachhaltigkeit! Danach rufen wir alle Tage, aber wir brauchen dafür ein Ende der Leitlosigkeit und einen gemeinsamen Charakter. Der Deutsche gilt schon immer als tendenziell zerrissen, aber jetzt geht das alles zu weit. Wollen wir Ausstieg aus Atomenergie? Ja, dann kostet der Strom mehr. Wollen wir die Armee abbauen? Ja, dann gibt es Arbeitslose. Wollen wir Diktatoren wegfegen helfen? Ja, dann gibt es das Chaos danach. Wollen wir die Schulden senken? Ja, dann müssen wir sparen. Wir haben uns an die Positionen der da oben gewöhnt, die uns mit Lösungen ohne Nachteile beglücken – so wie es die berühmten Business Cases im Management tun.
Wir streben eigentlich Leidlosigkeit an, aber wir fabrizieren endlos debattierend Leitlosigkeit. Und damit fängt das Leiden erst recht an.

Wählen Sie alles ab, was keinen Charakter hat! Kaufen Sie es nicht! Treten Sie aus. Und engagieren Sie sich selbst. Wer sonst schafft das Ende der Leitlosigkeit?

Gunter Dueck

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