Links im Sinnraum
Aha, Suchmaschinen wie Google machen dumm und Frank Schirrmacher will noch eine – wo bleibt der höhere Mensch? (Daily Dueck 149, September 2011)
Eine kürzlich in Science publizierte Studie über Google Effects on Memory von Betsy Sparrow, Jenny Liu und Daniel M. Wegner zeigt, dass wir uns tendenziell Dinge nicht mehr genau merken, wenn wir wissen, dass wir sie uns auch ergoogeln können. Wir merken uns zwar die konkreten Dinge nicht mehr, wissen aber, wo sie sind, wenn wir sie brauchen. Frank Schirrmacher hat daraufhin in der FAZ die Gefahr einer Auslagerung unseres Gedächtnisses an die Wand gemalt und eine Debatte losgetreten. Er befürchtet, dass unser Gedächtnis bei Google lagert und möchte dann lieber eine europäische Suchmaschine, in der es dann aber auch abgelegt ist. Uiih, ich fürchte, die Debatte bleibt im Maschinenraum stecken. Was passiert mit Urwaldindianern, denen man erstmals Gewehre gibt, also ihre Jagd-Fähigkeiten auslagert?
IIn der Studie selbst wird schon zart angedeutet, dass sich Leute
wie ich verschiedene Dinge ganz sicher nicht merken, weil sie zum
Beispiel verheiratet sind. Ich weiß nicht, wie man wäscht
und was für Kleidung die Leute auf der Party anhatten, aber ich
kaufe alles ein und kenne jede Quelle für Küchenzutaten.
An meinem Arbeitsplatz gibt es Controller und Super-Techies, deren
Gehirne vollkommen anderes befüllt und sogar anscheinend anders
formatiert sind. Man sagt, wir alle seien ein Team oder besser Schwarm,
in dem alles kollektiv gewusst und gekonnt wird. Es kommt auf das
Netzwerk der Menschen an, gemeinsam das Wissen und seine Anwendung
arbeitsteilig zu organisieren. Die sogenannte Teamarbeit ist so schwierig,
weil wir sehr viele Fähigkeiten an andere Teammitglieder ausgelagert
haben und uns auf sie verlassen müssen. Teamarbeit scheitert
oft an der Integration verschiedener ausgelagerter Fähigkeiten
zu einem Ganzen.
Jetzt haben wir noch Google dazu! Google weiß irgendwelche Antworten
– die sind oft unklar, diffus, oder widersprüchlich –
genauso, wie wenn ich einen Arbeitskollegen bei einem schwierigen
Geschäftsprozessproblem um eine konkrete Auskunft bitte. Er redet
und redet, und ich muss herausfiltern, ob ich etwas gebrauchen kann.
Ich bekomme dann oft einen Hinweis von ihm, bei welchen anderen Menschen
(menschlichen „Links“) ich weitersuchen soll. Dann frage
ich tapfer weiter, von Pontius zu Pilatus (das sind die beiden, die
meist involviert sind), bis ich endlich eine Informationslage habe,
mit der ich weiterarbeiten kann.
Ich will sagen: Wir sind daran gewöhnt, in Menschennetzwerken
zu googeln. Jetzt aber googlen wir echt. Es geht schneller und meistens
ganz gut, oft sogar besser, denn in den meisten Fragen kennen wir
ja ganz und gar keinen Menschen, den wir fragen könnten. Wir
haben so viele Fragen über die ganze Welt des Wissens! Da müssten
wir die halbe Welt kennen. Dank Google ist nun ein gewisses Äquivalent
dazu geschaffen worden.
Wir haben früher unser Gedächtnis an Menschen in unserem Umfeld ausgelagert – auch an Bibliotheken. Das Wissen war ja auch früher immer irgendwo. Nur dauerte die Suche so lange, sie war umständlich und kostete Nerven und Geld. Jetzt ist alles im Smartphone! Zack, da! Fakten, die wir per Halbtagsbesuch in der Bibliothek gesucht hätten, sind sofort bei der Hand. Erfahrungen, für die wir uns früher von Mensch zu Mensch hangelten, bekommen wir nun nach und nach durch Surfen und dann auch manchmal von einem dabei gefundenen Menschen.
Diese ganze Entwicklung hat nichts mit Google an sich zu tun, mit Bing, Amazon oder Ebay, nichts mit Amerika oder Europa. Das Internet hält nun – in welcher Form oder unter welchem Geschäftsmodell auch immer – das Wissen und oft auch die Erfahrung anderer bereit. Überall und für jeden. Nun entsteht, so sehe ich es, eine neue Welt.
Stellen Sie sich vor, man gibt Urwaldindianern, die mühselig
von der Jagd leben, plötzlich Gewehre. Bum! Bum! Und schon ist
genug zu essen da. Was tun sie nun den ganzen Tag? Sie könnten
die Zeit auf Bauten oder Landwirtschaft verwenden und sich zu hohen
kulturellen Leistungen aufschwingen! Oder sie verkaufen überschüssig
erbeutetes Fleisch gegen Getränke und erinnern sich bei ihren
Streitigkeiten an die Gewehre. Kurz: Ein solcher Einschnitt wie in
meinem bewusst fiktiven Beispiel verlangt nach einer neuen Orientierung
des Menschen und seiner Lebensform. Es hilft nicht, die Parole „Gewehre
machen fett, träge und aggressiv“ auszugeben oder „Google
macht dumm“.
Mit dem Internet haben wir nun mehr, ja viel mehr als früher
– und wir müssen nachdenken, welcher Segen darauf liegen
könnte. Wie gestalten wir das Leben mit dem Internet, wenn das
ganze Wissen der Welt auf einem Handy gespeichert werden kann?
Und genau dazu fällt mir ein: Wissen ist nicht Können. Ich koche ja zu Hause, und wir haben eigentlich heute schon ganz überflüssigerweise zwei Meter Kochbücher im Regal. Was könnten wir Leckeres essen? Wir blättern. Nein, eigentlich nicht mehr. Wir surfen bei Chefkoch.de im Internet, wo andere Leute schon wissen, wie es schmeckt, und wo einige schon sinnvolle Abwandlungen des Rezeptes anmerken, also ihre Erfahrungen mitteilen. Und jetzt – Frank Schirrmacher, Günter Jauch und sonstige Befürchter – jetzt muss ich doch noch kochen, oder? Das ist eine Fähigkeit oder gar Kunst. Das Rezept ist das Wissen, das frei im Internet ist. Aber auch die besten Rezepte brauchen noch die Kunst an sich. Wer nur Rezeptzutaten zusammenmischt, kocht herzlich durchschnittlich. Wer Doktorarbeiten aus Zitaten anmischt, erschafft keine Wissenschaft. Wer als Politiker verspricht, was bei Facebook oder in der Bouelevardpresse am meisten geliked wird, ist nur durchschnittlicher Listenplatzhalter.
Das Internet verhilft fast jedem, das Durchschnittliche oder besser das Mäßige ohne große Vorkenntnisse oder Fähigkeiten hinzubekommen. „Google erledigt alles bis zur oberen Unterschicht“, also ziemlich viel. Für das Exzellente, Gehobene oder die Premium-Qualität aber ist das Wissen im Netz ein Segen, noch besser und gehaltvoller zu werden. Wer richtig gute Wissenschaft betreiben will, wer Meisterkoch werden will, wer sich um Kunst und Architekturen bemüht, wer etc. etc. wirklich den Olymp stürmen will, für den ist das Internet eine wunderbare Inspirationsquelle und über die Foren, Blogs, Twitter oder etwa Google+ eine einzigartige Möglichkeit, sich mit den wahren Meistern aller Zünfte zu vernetzen.
Wir können also Google benutzen, um (ja, Frank Schirrmacher!)
unser Gedächtnis auszulagern und dann herzlich durchschnittlich
als Nur-Googlegebildeter ein durchschnittliches Leben zu führen.
Wir können aber auch einen Segen daraus machen.
Wir müssen nicht mehr so viele Rezepte auswendig können,
wir können uns auf die Kochkunst konzentrieren. Man muss Malkunst
beherrschen, nicht alle früheren Bilder im Kopf haben. Man muss
Dichtkunst beherrschen, nicht alle Literatur gelesen haben. Wo das
Wissen überall frei da ist, kann nun überall das Können
wachsen. So wie die Jagd mit Gewehr oder die Landwirtschaft mit Trecker
andere Welten möglich machen, so müssen wir nun die neue
Welt des Internets wirklich fruchtbar erschließen.
Wir brauchen zu der höheren Bildung (die uns mit dem Internet
leichter fällt) nun auch das höhere Können, das Hochprofessionelle,
mehr Empowerment zusätzlich zum Enlightenment. Wenn die Rezepte,
die Fahrpläne, die Straßennamen getrost bei Google ausgelagert
sein können, dann können wir die freiwerdende Hirnkapazität
für Höheres einsetzen. Was könnte dieses Höhere
sein? Das, was wir nach Google auslagern, ist das Einzelne, das separat
Abrufbare. Das Höhere ist das Gesamte. Wir brauchen Leute, die
systemisch denken und handeln, die emotional intelligent sind, unternehmerisch
handeln, nachhaltig agieren, Sinn für Sinn haben, kreativ sind,
offen und neugierig sind und die die Dinge vorantreiben, die führen
und verhandeln können, die gehört werden und andere dazu
bringen können, mit ihnen fruchtbar zu sein.
Was davon wird in der Schule gebildet? Was davon an der Universität?
Da kann ich endlos weiterschreiben. Das tue ich auch. Das nächste Mal vielleicht.
PS: Artikel über Studie
Vollst. Studie
FAZ-Artikel von F. Schirrmacher
SZ TV-Kritik