Das Internet ist schuld, weil es so anonym und so transparent ist (Daily Dueck 147, August 2011)

Die Politiker sagen, es sei gefährlich, im Internet die eigenen Daten preiszugeben. „Wenn ihr schon chatten müsst, verratet doch bitte nicht euren Namen, Kinder. Wenn ihr euch später um einen Job bewerbt, wird man nach euch googlen. Da kommt alles raus.“ Die Politiker sagen, dass die Anonymität im Internet die Verbrecher schützt. Deshalb soll die Anonymität ganz fallen. Jeder soll seinen echten Namen offenbaren. Ja, was nun? Sommerlochtheater.

Die Unternehmen im Internet nutzen die Ehrlichkeit der Kunden schamlos aus und handeln mit den Adressdaten. Man schaut in Datenbanken nach: Ist unter dieser Adresse ein Einfamilienhaus oder ein Plattenbau? Bei Google StreetView kann man sich das Haus sogar anschauen und die Interessen des Kunden berechnen. Hat er Unkraut am Straßenrand? Ist der Schnee geräumt? Oder der Rasen wie ein Golfplatzgrün gepflegt? Man sieht sofort, ob da ein Alternativer oder ein „ehrbarer Deutscher“ wohnt und wie viel Geld sie wofür haben. Das kindliche Geschwätz auf Facebook & Co kommt in jede Personalakte. Das Internet vergisst nichts. Das ist den meisten schon bejahrten Menschen nicht so klar, weil es vor dem Jahr 2000 kaum Einträge im Netz gibt, zum Beispiel keine älteren Doktorarbeiten – meine ist ja mit Kugelkopf geschrieben und besteht halb aus Tipp-Ex. Unsere Jugend aber, die Generation der Digital Natives, ist schutzlos den harten Sonnenstrahlen des Web ausgesetzt. Meine Mutter sagte wie jede Mutter damals noch: „Gott sieht alles!“ So etwas haben wir jetzt. Alles ist transparent. Davor muss man sich schützen, sagen die Politiker. Man muss Daten wieder löschen können, wenn sie einem nicht gefallen! Insbesondere „das Geschwätz von gestern“ der öffentlichen Personen, das sie angeblich nicht mehr kümmern will, ist auch heute und auf ewig mit ihnen.

Während sich auf der einen Seite die ehrlichen Menschen vor der Transparenz aktiv in Acht nehmen sollen, ist das bei unehrlichen ganz unerwünscht. Menschen, die etwas Böses vorhaben, müssen sich natürlich erst unter vollem Namen bei einer Behörde registrieren und beim Chatten eine IP-Fessel tragen. Man braucht volle Transparenz! Was ist etwas Böses? Wer weiß es, wer entscheidet das? Das weiß die Behörde oft selbst nicht so genau. Die Behörde in Ägypten fand die Verständigung des Volkes unter Facebook nicht so gut und hätte sich mehr Transparenz unter den Nutzernamen gewünscht. Oder: Ist es böse, pauschalen Unmut über Anhänger anderer Religionen zu äußern? Ja, das finde ich wie die meisten. Ist es böse, über andere Religionen karikaturistisch Witze zu machen? Das ist das festgestellte Recht des Karikaturisten, aber man kann über Pietät oder Geschmack streiten oder in der Bibel lesen (10 Gebote, Exodus) und Sympathie für andere zeigen: „Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder des, das oben im Himmel, noch des, das unten auf Erden, oder des, das im Wasser unter der Erde ist.“

Es geht um das Augenmaß, was was ist. Das müssen wir erreichen oder behalten. Das Internet entwickelt sich rasend schnell, und wir müssen mitten in der Bewegung ruhig und ausgleichend sein. Leider sind die Entscheider in Wirtschaft und Politik nicht im Internet! Sie reden darüber wie einst der spanische König über die neu entdeckten Länder in Südamerika, die ihm spanisch vorkamen.

Haben wir denn Transparenz im realen Leben? Wird denn jeder Link im Rotlichtmilieu aufgezeichnet? Rufen Chipimplantate in Jugendlichen ab 1,5 Promille oder 90 Nachtdezibel die Polizei? Werden die Parteispender veröffentlicht, die so sehr stolz zu ihrer wundervollen Partei stehen, sodass sie sie selbstlos unterstützen? Trauen sich Politiker, ihre eigene Meinung zu sagen, oder spülen sie sie nach den Sitzungen mit Bier weg? Werden die Personalien der Demonstranten vor den Kundgebungen und ihr Schimpfen währenddessen gespeichert – so wie es im Internet ja auch sein soll? Soll ein Unternehmen jedes Problem publizieren und sich damit eventuell selbst in den Abgrund reißen? Erzählen Sie Ihrem Lebenspartner alles?
Die Balance zwischen der wünschenswerten Transparenz und der wünschenswerten Privatsphäre muss kontinuierlich neu gefunden werden. Leider wird diese Balance immer wieder durch Sommerlochanschläge in Gefahr gebracht, wenn Einzelunglücke zum Anlass genommen werden, das Ruder jetzt wieder energisch ganz dramatisch herumzureißen und „Stimmung zu machen“, die jetzt im Sommer fehlt.

Im Netz liegt viel von unserer Zukunft. Das wissen wir alle. Warum machen sich Politiker und ältere Meinungsforscher einen Sport daraus, diese Zukunft schlechtzumachen? Warum diffamieren sie die Gewalt, den Sex, die Geschäftemacherei, die Werbung, die Abzocke, die Hetze im Netz? Gibt es das nicht alles schon allezeit im realen Leben? Und haben die Politiker nicht schon immer versagt, alles im Realen abzuschaffen? Haben sie etwa die Idee, dass es zu schaffen wäre, das Leben im Netz sündenfreier als im Leben 1.0 zu führen? Warum verbieten sie die realen extremen Parteien und Hetzer nicht? Warum gibt es ein reales industrialisiertes Sexgewerbe? Warum Waffen und Schießsport? Warum ist schon eine Ohrfeige bei Gefängnis verboten und dann übt man Boxen? Aber nein, immer ist das Netz für das Böse verantwortlich. Dass der norwegische Attentäter Waffen hatte, findet niemand verwunderlich, aber er hat anonyme Hetze im Internet gelesen. Also ist die Anonymität ist die Ursache! WikiLeaks deckt auf und macht transparent. Also ist die Transparenz die Ursache. Ach nein, es liegt nicht am Netz. Die Menschen sind in 1.0 und 2.0 doch dieselben. Aber 2.0 ist die Zukunft, wie gesagt – und die müssen wir gestalten und dürfen sie nicht als Sündenparkplatz missbrauchen.

Gunter Dueck

© 2005 Gunter Dueck l design: nukke.de (ad+bvp)