Links im Sinnraum
Tagesdruck statt Quartalsdruck! (Daily Dueck 146, Juli 2011)
Es ist schon lange üblich, am Ende des Jahres einen Geschäftsabschluss zu machen. Die Steuerbehörden wollen das so. Es ist aber auch irgendwie sinnvoll, oder? Später kam man auf die Idee, Quartalsabschlüsse zu fordern, damit die Anleger der Kapitalgesellschaften besser informiert wären. Dadurch wurden die Unternehmen gezwungen, den Kontrollaufwand zu vervierfachen. Computertechnologien halfen, den Mehraufwand in Grenzen zu halten. Manager konnten nun zusätzlich unter Quartalsdruck gesetzt werden! Nun begannen diese wegen des Drucks, viel härter zu im Hamsterrad zu strampeln, was ihnen blutige Laien immer als Gier vorwerfen. Wenn aber Quartalsdruck besser wirkt als bloß temporäre Jahresabschlussangst, warum dann nicht Tagesdruck und Tagesabschlussangst?
Wir könnten täglich die Arbeit neu ordnen und uns auf die Zukunft ausrichten! Dadurch wäre unsere Nachhaltigkeitsstrategie praktisch tagesaktuell und äußerst flexibel. Wenn das Top-Management jeden Tag neue Beschlüsse fassen muss, kann es auf allerjüngste Marktbewegungen reagieren und sich blitzschnell an verändernden Kundenbedürfnissen ausrichten. Es ist oft schwer zu sagen, was den Markt im nächsten Quartal bewegt, aber es könnte gehen, wenn jetzt das Management nun wirklich über den Tag hinaus sehen kann und wirklich einmal an morgen denkt. Wenn wir täglich alles neu machen, ist die Zukunft so nahe, dass wir sie erstmals mit Händen greifen können! Sie ist ja schon am nächsten Tag.
Ich habe neulich gelernt, dass manche Firmen schon heimlich Wochenabschlüsse machen, um dadurch gegen die Wettbewerber im Markt große Vorteile zu erzielen. Sie setzen ihre Manager unter Wochendruck. Das ist ein enormer Fortschritt. Warum nicht konsequent weiter? Tagesdruck brauchen wir! Absoluten Tunnelblick auf das Tagesergebnis!
Ach ja, das fiel mir gerade ein, weil ich in einem alten Buch von
mir blätterte, in der Beta-inside Galaxie. Da habe ich in einer
längeren Erzählung Bölls Nicht nur zur Weihnachtszeit
dichterisch in einen anderen Zusammenhang versetzt. Heinrich Böll
beschreibt die Tante Milla, die psychotisch jeden Abend Weihnachten
feiern muss (sonst bekommt sie Schreikrämpfe). Das machen die
anderen eine Weile mit, sie werden aber dann selbst mehr und mehr
verrückt darüber oder laufen weg (man ersetzt die Kinder
für die allabendliche Feier nach und nach durch Wachspuppen als
Stellvertreter für diese Meetings). Zum Schluss ist Tante Milla
so etwa die psychisch gesündeste Person im Spiel.
Diese berühmte Erzählung habe ich unter dem Titel Nicht
nur zur Neujahrszeit für das Business verfeinert. In der beschriebenen
Firma wird nun für den unter Zwang stehenden Chef täglich
bilanziert und reorganisiert. Ich zitiere einfach eine Aufstellung
aus dem Buch? Diese Stelle ist im Jahre 2001 niedergeschrieben worden,
sie hat also zehn Jahre auf dem Buckel:
• 08.00 Uhr bis 09.00 Uhr: Die Mitarbeiter einer Abteilung
lernen den neuen Chef kennen
• 09.00 Uhr bis 10.00 Uhr: Die Ziele und Aufgaben werden erklärt
und verteilt
• 10.00 Uhr bis 11.00 Uhr: Die Mitarbeiter üben sich in
der neuen Aufgabe
• 11.00 Uhr bis 12.00 Uhr: Starten von Marketingkampagnen für
neue Tagesprodukte
• 12.00 Uhr bis 13.00 Uhr: Mittagessen
• 13.00 Uhr bis 14.00 Uhr: Arbeiten
• 14.00 Uhr bis 15.00 Uhr: Messen der Arbeitserfolge zum Reporting
• 15.00 Uhr bis 16.00 Uhr: Erfolgssammlung und Reporting für
Versager
• 16.00 Uhr bis 17.00 Uhr: Das Firmenteam bereitet eine Präsentation
vor
• 17.00 Uhr bis 18.00 Uhr: Vorabstimmung mit dem Computersystem
• 18.00 Uhr bis 19.00 Uhr: Klärung der Widersprüche
in den Zahlen und Klärung der Streitigkeiten bei der Erfolgszurechnung.
• 19.00 Uhr bis 20.00 Uhr: Abendessen
• 20.00 Uhr bis 21.00 Uhr: Bewertung der ganzen Firmenbelegschaft
• 21.00 Uhr bis 22.00 Uhr: Managermeeting zur Finanzplanung
des nächsten Tages
• 22.00 Uhr bis 23.00 Uhr: Festlegung der Geschäftsziele
für den nächsten Tag
• 23.00 Uhr bis 24.00 Uhr: Fieberhaftes Arbeiten am neuen Org-Chart
• 00.00 Uhr bis 01.00 Uhr: Managermeeting und Restrukturierung
• 01.00 Uhr bis 02.00 Uhr: Die neuen Manager teilen die Mitarbeiter
neu unter sich auf
Das habe ich damals in dichterischer Freiheit unter grimmigem Sarkasmus erfunden! Leser protestierten dagegen, so wie seinerzeit Böll „Verunglimpfung des deutschen Gemütes“ vorgeworfen wurde. Meine Leser fanden den Stress in meinem Plan unmenschlich und die kontrollierende Zwanghaftigkeit des ohne Meetings in Schreikrämpfe ausbrechenden Chefs vollkommen irreal. Vielleicht irritiert auch, dass der psychotische Chef wieder der psychisch Gesündeste bei dem Spiel bleibt? Aber das muss ich doch schreiben! Schon aus Treue zu Böll! Da hatte ich den Protest schon kommen sehen und meine Visionen schon fast ganz und gar in satirische Nebel verhüllt! Ich konnte dadurch das Schlimmste verhindern und diese neuen Ideen ganz sacht und eruptionsfrei in Sie einsickern lassen. Seitdem zieht nach und nach der gesunde Menschenverstand in alle ein. Man setzt meine damals noch etwas revolutionären Ideen zum Dauerdruck langsam, aber noch zu zaghaft um. Heute, zehn Jahre später, kann ich endlich das finale Konzept des Tagesdrucks beim Namen nennen und es der ganzen Menschheit offen empfehlen, wo sie sich schon so erfreulich weiterentwickelt hat.
Das konnte ich vor zehn Jahren noch nicht ahnen! Oh! Ich sollte die Empfehlung oben lieber nochmals durchsehen, ob sie heute noch aktuell ist! Natürlich ist der Originalplan von erheblichem historischem Interesse, aber heute sollte ich Ihnen etwas wirklich Praktikables vorlegen, das sofort umsetzbar ist. Okay, ich lese alles nochmals durch. Oh weh! Ich zucke jetzt aber doch peinlich berührt zusammen. Mittagessen! Abendessen! Mitarbeiter üben die neue Aufgabe! Schlimm, schlimm. Es war eigentlich damals schon abzusehen, dass statt echter Pausen einfach belegte Brötchen während der Meetings herumgereicht werden würden. Und Mitarbeiter üben ja heute gar nichts mehr, die Ausbildung erfolgt durch Kundenbeschwerden – wie es ja in der schlechten Erziehung gang und gebe ist. Dann könnte ich nun bei korrekter heutiger Sicht drei volle Stunden anders verteilen. Worauf? Ja, worauf? Eine Stunde Strategiemeeting dazu? Oder Business Ethics? Innovation? Nachhaltigkeit? Diversity Training? Es ist schwer, alles unter einen Hut zu bringen, weil das Management immer komplexer wird, je mehr es die Arbeit verdrängt.