Links im Sinnraum
Ächtet die Dringendmacher! (Daily Dueck 143, Mai 2011)
Kennen Sie das? Als gestresste Eltern bringen Sie noch kurz das Kind zur Schule. „Mama, ich soll heute eine Camembert-Schachtel aus Holz zum Basteln mitbringen. Es ist dringend.“ – „Warum sagst du das nicht vorher, warum erst jetzt? Was tun wir denn so schnell? Bist du verrückt geworden?“ – „Mama, es fiel mir gerade ein.“ – „Gut, dann sagst du in der Schule, du hast es vergessen. Dann kaufe ich die Schachtel heute Abend.“ – „Mama, das habe ich der Lehrerin letzte Woche schon gesagt.“
Ach, wenn Sie Kinder haben! Das gibt einen Feuersturm der Emotionen!
Schnell zum REWE! Das Kind wird unter Fluchtiraden vor der Schule
aus dem Auto geworfen – und nun kommt der entspanntere Teil
des Tages, die Berufstätigkeit. Sie beginnt mit dem Checken der
E-Mails, danach werden die wichtigsten Dinge zuerst erledigt. „First
Things First!“, so lautet die Zauberformel aus dem Kultbuch
Seven Habits of Effective People von Stephen Covey. Dort wird geraten,
alle Arbeiten nach Dringlichkeit und Wichtigkeit zu klassifizieren.
Effektiv arbeitet nach Covey oder nach gesundem Menschenverstand derjenige,
wer fast nur an wichtigen Dingen arbeitet, die nicht dringend sind.
Leider findet jetzt jeder von uns spezielle Alarmmails (ich erfinde
ein paar): „Vor einem Jahr haben wir Sie als Speaker für
unsere lange geplante Konferenz verpflichten können. Jetzt startet
die heiße Endphase. Wir haben uns gestern überlegt, dass
wir doch einen Konferenzband erstellen, zu dem jeder Speaker einen
etwa zehnseitigen Abstract mit kurzen knackigen Thesen beisteuert.
Sicher haben Sie das meiste schon bei der Hand – es ist außerordentlich
wichtig, Ihren Beitrag schon morgen für die Drucklegung zu bekommen.
Damit wir als Organisatoren nicht zu viele Mails bekommen, hängen
wir unten detaillierte Vorschriften an, wie Sie Ihren bebilderten
Beitrag bequem mit zwanzig bis dreißig Clicks auf unser Portal
uploaden können.“
Und noch eine Mail: „Gestern Abend bereiteten wir seit 23 Uhr
die heute stattfindende Geschäftsführungssitzung vor. Wir
benötigen dazu noch Informationen von Ihnen, die Sie sicher zur
Hand haben werden, wenn Sie ein guter Manager sind, wie wir annehmen
müssen. Wir schreiben Ihnen trotzdem jetzt schon um 02:00 Uhr,
damit Sie Zeit haben, noch in Ruhe bis zum Sitzungsbeginn um 09:00
Uhr vertieft antworten zu können. Wir möchten wissen, zu
welcher genauen Tageszeit Ihre letzten hundert Kundenverträge
von Ihrem Kunden unterschrieben worden sind. Bitte füllen Sie
die angehängte Excel-Vorlage aus und sehen Sie von Rückfragen
ab. Bitte genaue nachprüfbare Daten und Fakten, keine Schätzungen.
Dazu raten wir aus gegebenem Anlass.“
Und noch eine: „Wir müssen für eine Revision dringend
alle Mitarbeiter überprüfen, ob sie ethisch sind. Bisher
musste man nur unethische Mitarbeiter in der Datenbank anklicken,
wofür dem Manager automatisch ein Monatsgehalt abgezogen wurde.
Jetzt wird in einem neuen Geschäftsprozess unterstellt, dass
alle Mitarbeiter unethisch sind. Manager müssen jetzt die Ethischen
anklicken und ihre Entscheidung im Einzelfall sorgfältig begründen.
Ziel des Unternehmens ist es bekanntermaßen, keinen einzigen
unethischen Mitarbeiter zu haben. Zero Tolerance! Dafür hat das
Unternehmen eine große Taskforce eingerichtet, die das Unethische
bekämpfen soll. Es kann doch aber nicht sein, dass laut der Datenbank
alle Mitarbeiter schon jetzt ethisch sind. Deshalb greift die Revision
zur Beweisumkehr. Es wird von Ihnen erwartet, dass Sie eine angemessene
Anzahl von Mitarbeitern markieren, damit die Taskforce zur Bekämpfung
des Unethischen endlich ihre Arbeit aufnehmen kann. Das soll morgen
sein, weil die Taskforce sonst nichts zu tun hat…“
Aus meinem früheren Leben als Hochschullehrer: „Ich habe
jetzt einmal schnell eine Rohfassung meiner Diplomarbeit fertiggestellt,
das hat sechs Semester gedauert, so dass ich wahrscheinlich unter
zwanzig Semester für das ganze Studium komme. Ich bin so gespannt,
welche Note ich bekomme. Bitte schauen Sie die Arbeit an, damit ich
die Note morgen früh weiß, weil mir eingefallen ist, dass
ich zum Test einmal so fünfzig Bewerbungen losschicken will.
Ich kann es gar nicht erwarten, ins Arbeitsleben einzutreten. Sonst
bekomme ich Ärger mit meinen Eltern, die jetzt den Geldhahn zudrehen.
Morgen früh, okay?“ (Da seufze ich unter der Annahme der
Öffentlichkeit, ich hätte noch Zeit, Arbeiten auf Plagiate
zu prüfen…)
Alles klar? Noch einmal theoretisch: Viele Dringendmacher sind absolut unorganisierte Leute, die beim Vorsichhertrödeln plötzlich etwas ganz Dringendes zu erledigen haben, wozu sie andere Leute brauchen. Diese fallen durch das neue Dringliche fast aus allen Wolken und zittern vor Zorn über diesen Saugangriff der Zeitvampire. Es gibt aber auch zwanghafte Dringendmacher, die alles unbedingt JETZT erledigt haben wollen. „Das habe ich mir so vorgenommen. Ich will es einfach vom Tisch haben. Deshalb jetzt sofort, bitte.“ Es gibt sekundäre Dringendmacher, die in einer ganzen Kette von Dringendgemachten nun selbst alles dringend machen. „Ich kann nichts dafür, die da oben wollen es plötzlich, deshalb muss ich jetzt auch plötzlich kommen.“ Es gibt ahnungslose Dringendmacher, die wirklich glauben, „man habe es sowieso alles zur Hand“ oder „man habe ja jeder fünf Assistentinnen, die es schnell regeln können“. Es gibt sadistische Dringendmacher, die vielleicht früher einmal Vorstandsassistent waren und die man nach jedem Burnout als Anerkennung ihrer Leistungen befördert hat. Dann sind da noch die Utilitaristen, die es nützlich finden, wenn die Arbeiten unter Druck viel schneller von der Hand gehen und dadurch mehr Glück erzeugen. Und es gibt Taskforces und Planungsstäbe, die dann, wenn sie am Nachmittag um fünf Uhr nach Hause fahren, wirklich glauben, als einzige im Unternehmen hart gearbeitet zu haben.
Es gibt also auch solche Dringendmacher, die den Zwang zum Eilen für eine gute oder manipulierende Idee halten. Aber die meisten sind einfach ahnungslos, rücksichtslos und unfähig. Sie haben keinerlei Trübung durch Konsequenzenbewusstsein. Oft sind sie selbst Getriebene, die das Gefühl dafür längst verloren haben, dass Getriebensein fast zwangsläufig höchstens zweitklassige Arbeitsergebnisse garantiert.
Wir müssen der Welt beibringen, eigene Handlungen auf Zeitnoterzeugung bei anderen abzuchecken. Die Welt ist nicht naturgegeben hektisch. Auch das Quartalsende ist nicht stressig. Das Datum des Quartalsendes ist lange vorher bekannt. Warum ist in Deutschland der Mittelstand so erfolgreich? Dort geht die Nachhaltigkeit nicht verloren. Warum klagen insbesondere Großunternehmen und staatliche Institutionen über kurzfristiges Denken?
In großen Systemen erzeugt eine vielleicht gar nicht so große,
aber kritische Masse von Dringendmachern immerfort einen Strom dringender
Kausalketten. Dadurch wird das ganze System mit immer wachsendem Neustress
geflutet. Niemand aber rottet die Dringendmacher aus! Ja, es gibt
solche, die alles noch dringender wollen! Und was tun wir dagegen?
Nichts, oder? Manche von uns lesen vielleicht noch die heute absolut
modischen Bücher über Entschleunigung. Dabei nicken sie
andauernd heftig – genau wie im Dringlichkeitsmeeting am nächsten
Morgen.