Links im Sinnraum
Mein Mord (Daily Dueck 14)
Auf einem Bauernhof werden die Tiere liebevoll großgezogen und geschlachtet. Wir wollen sie ja essen, aber es ist schwer, ein Tier zu ermorden, das einen Namen hat. Anders ist es mit dem Schießen von Spatzen, die das Hühnerfutter wegfressen. Es gab damals im Dorf 10 Pfennig für einen Toten. Das war in meiner Kindheit als Kopfprämie ungeheuer viel Geld. Es reichte am mechanischen Drehautomaten beim Kaufmann Bartels für zwei Stangen Prickel-Pit oder ein Tütchen Salmiakpastillen.
Die Bauern stöhnten damals unter den Spatzen im Hof und den
Mäusen in der Scheune. Wir Kinder jagten sie und verteidigten
damit unser Hab und Gut, den Weizen. Ich durfte mit einem Luftgewehr
schießen, traf aber wenig, weil die Spatzen es fast immer merken,
wenn man auf sie zielt. Wahrscheinlich war die Munition viel teurer
als die Kriegsbeute, aber das ist zu allen Zeiten so. Ich war jedenfalls
sehr nützlich, weil ich schädliche Wesen vernichtete.
Eines Tages traf ich einen halb verdeckten Spatz im Birnbaum, der
todwund herunterfiel und noch etwas lebte. Ich stürzte herzu,
ihn zu erbeuten.
Wie ein Blitz fuhr es in mich und drehte mein Herz für längere
Zeit um. Ich stand betäubt, versteinert, begann zu zittern. Es
war kein Spatz. Es war ein Grünfink. Ein wunderschöner,
lieblicher Singvogel. Ich tötete ihn vollends mit Tränen
in den Augen. Es war grauenhaft. Ich saß lange da und begrub
ihn schließlich feierlich und ganz heimlich unter einem Baum.
Ich betete für ihn und bat Gott inständig um Verzeihung.
Ich zitterte, ob es jemand gemerkt haben könnte. Ich schaute
in den Augen der Menschen nach, ob sie davon wüssten. Ich horchte
schon im Morgengrauen auf die Stimmen der Vögel, ob sie klagten
und mich verrieten. Ich glaubte, den Ehepartner des Grünfinken
heraus zu hören – wie er verzweifelte und mich verfluchte.
Ich schlief unruhig und wand mich unter meinem Gewissen. Denn ich
hatte einen Mord begangen.
Ich erzähle es heute zum ersten Mal. Das Gefühl des Mordes sitzt heute noch in meinem Herzen und kommt immer noch heiß hoch, als seien nicht seither über 40 Jahre vergangen. Ich habe nach und nach das Vernichten von schädlichen Tieren aufgegeben. Der Grünfink war bei mir. Er redete mit mir über die Spatzen. „Sie sind nur braun, nicht grün, aber Vögel wie ich!“
Vor einigen Monaten kam der Grünfink wieder. Ich war kurz bei
einer Firma im Ausland für eine Rede zu Gast. Sie waren alle
sehr unruhig. Die Firmenleitung hatte alle Mitarbeiter am Vorabend
zusammengerufen und die Entlassung von zehn bis fünfzehn Prozent
der Belegschaft angekündigt. Die Gründe wurden lange dargelegt
und die Versammlung endete mit dem Satz: „Wir kennen schon die,
die gehen müssen. Wir werden den Betroffenen morgen über
den Tag verteilt davon Mitteilung machen. Wer morgen nichts von uns
hört, kann bleiben. Wir können nicht alle verständigen.
Wir bitten dafür um Verständnis.“
Heute aber war morgen und sie warteten. Die Manager wollten nicht
zu unpersönlich vorgehen und nahmen davon Abstand, eine nützliche
seelenlose E-Mail zu verschicken. Sie riefen die ausgesuchten „Low
Performer“ daher telefonisch an. Ich rief entsetzt: „Warum
reden sie nicht von Angesicht zu Angesicht?“ Aber einer der
Mitarbeiter hatte genau das schon einen der Manager gefragt.
„Wissen Sie, es ist zu viel von einer Führungskraft verlangt,
in die Augen der Mitarbeiter zu sehen. Ich sehe dann, wie das Leben
weicht, wie ich die Familie zerstöre und Elend einzieht unter
denen, mit denen ich spreche. Ich fühle, wie ich töte. Kann
ich das überstehen – wenn ich mit so sehr vielen reden
muss? Mich würde noch lange das Grauen schütteln! Ich käme
mir vor wie…“
Und ich dachte bei mir: Bei einer bloßen Entlassungsmail sind
es schädliche Spatzen, aber wenn wir ihnen in die Augen schauen,
sind es Grünfinken – totwund – und gleich muss unfeierlich
ein Ende gemacht werden.
Es gibt einen Unterschied in uns – zwischen dem Morden und
dem nüchternen notwendigen Töten. Schädlinge, Schmarotzer
und Terroristen töten wir entschlossen, Nutztiere schlachten
wir zum Essen, japsende Fische zappeln lecker im Netze als Ernte des
Meeres. Man darf nur nicht in die Augen schauen! Man muss lernen,
dass es Schädlinge oder Nutztiere sind! Man muss lernen, sie
ganz blind zu hassen oder sachlich und objektiv mit ihnen umzugehen.
Denn sie versuchen immer, in unsere Augen zu schauen.
Da müssen wir lernen, die eigene Seele so fest vor ihnen zu verschließen,
als ob sie uns verloren gegangen wäre.
Und wenn uns das gelingt, sehen sie uns wie wir sie.