Links im Sinnraum
Die Dummheit auf der sicheren Seite (Daily Dueck 139, April 2011)
Oft wundern wir uns, warum Leute so unendlich dumme Sachen anstellen. Aber Dummheit ist ganz oft auf der sicheren Seite! Wer wie alle handelt, ist kritikbefreit. Genau! Ich bin auf diesen Gedanken gekommen, als im Radio über das Antibiotikum Penicillin berichtet wurde. Bakterien schossen mir durch den Kopf, … ja, und Menschen.
Penicillin stört Bakterien bei der Synthese der Zellwand und
tötet sie damit indirekt. Bakteriell Erkrankte werden meist wieder
schnell gesund und sind von den Bakterien befreit. Nur ganz wenige
Bakterien können sich auf das Penicillin einstellen, die bilden
dann aber bald eigene Stämme und werden resistent. Sie müssen
dann durch ein anderes Antibiotikum gestört werden, damit sie
der Erkrankte rasch loswird. Es wird gewarnt – sagten sie im
Radio – sich bei jedem Wehwehchen mit Antibiotika behandeln
zu lassen, weil man dadurch im eigenen Körper Bakterienstämme
entwickelt, die irgendwann gegen alles resistent sind.
Na, das wissen wir doch alle! Das ist nicht neu! Natürlich schauen
wir uns im realen Leben oft verwundert um, dass viele Menschen Penicillin
als Nahrungsergänzungsmittel wie auch Aspirin auffassen. Und
da kam der Satz im Radio, der mich aufhorchen ließ: Besonders
in Amerika verschreiben die Ärzte lieber doch jedes Mal Penicillin,
weil sie juristische Klagen von Kranken fürchten, die ohne Penicillin
dann doch eine schwere Krankheitszeit mitmachen mussten. Sicher ist
sicher, denken da manche/viele/„die“ Ärzte, und verabreichen
das Medikament wider besseres Wissen. Diese unsinnige Grundsatzhaltung,
immer Penicillin zu geben, ist aber kritikbefreit! „Ich tat,
was ich zur Gesundung nur tun konnte.“ – „SPÄTER
aber stirbt er vielleicht an resistenten Stämmen!“ –
„JETZT aber ist er schwer bronchitisch und kann unter Umständen
nicht am Managermeeting teilnehmen!“
Ich glaube, dass negativer Stress von Eltern, Lehrern und Chefs so
etwas wie Penicillin ist. Wenn wir nicht gut arbeiten, also krank,
faul, verrückt oder bösartig sein müssen, dann „hauen“
sie uns mit Strafen, Geld- und Liebesentzug, Entwürdigung vor
anderen, mit Anpfiffen, Überstunden und so weiter. Es ist sattsam
bekannt, dass es dabei zu guten und schnellen Heilungen kommt! Angepfiffene
arbeiten sofort schneller – die Wut peitscht sie hoch, das in
den Kopf schießende Blut beflügelt sie! Sie wollen die
Falten im Gesicht des Peinigers wieder in Lächellage bekommen!
Im Nu sind sie nicht mehr faul, unfähig oder destruktiv, sondern
hochmotiviert! Deshalb wird auch vom „Motivieren“ der
Mitarbeiter oder Kinder gesprochen, wenn man über Maßnahmen
redet, die so etwas wie Hinterntreten bedeuten.
Das Motivieren durch negativen Stress hat Nebenwirkungen – genau
wie das Penicillin. Mit der Zeit werden negativ Motivierte resistent.
Sie schalten auf Durchzug, nehmen Strafen wie Regen und Schnee hin
und spüren kaum noch Schmerz.
Na, das wissen ja auch alle! Nicht neu! Aber was sehen wir? Wie fühlen
wir selbst uns hinten an? Wie stark schmerzt alles noch? Sehen wir
nicht oft in den TV-Sendungen, die sich im realen Schmutzleben suhlen,
diese unbegreiflich resistenten Mitmenschen? Warum motivieren wir
sie dann immer noch negativ?
„Herr Dueck, ich verstehe Ihren Punkt. Ich weiß, dass sie nicht motivierbar sind. Aber stellen Sie sich vor, sie würden einfach unmotiviert herummachen und dann käme wieder mein Chef vorbei und würde sich wundern, warum ich sie nicht motiviere. Verstehen Sie? Ich MUSS brüllen, weil ich sonst selbst am Pranger stehe, nicht genug Druck gemacht zu haben. Ich weiß, dass mein Brüllen die Lage eher verschlimmert, weil die da gar nichts mehr fühlen und sie mich auch schon lange verachten. Sie verachten mich noch stärker, weil ich sie anbrülle, obwohl ich weiß, dass es nichts nützt. Ich MUSS aber brüllen, weil ich dadurch auf der sicheren Seite nach oben hin bin. Niemand kann mir nachsagen, dass ich nicht hart genug wäre. Es gibt einige Führungskräfte, die nicht so hart sind wie ich. Denen glaubt man nicht, dass sie bestmöglich arbeiten. Deshalb werden sie nicht befördert, ich aber schon. Gerade dafür aber werde ich noch mehr verachtet. Das halte ich kaum noch aus, es zerreißt mich ganz. Ganz, ganz langsam.“
Das grundsätzliche Verschreiben von Penicillin oder das grundsätzliche negative Motivieren sind nicht dumm! Dummheit – so zitiere ich immer wieder Carlo Cipolla aus seinem wunderbaren kurzen Werk Die Prinzipien der Dummheit – schadet anderen, ohne sich selbst zu nützen. Hier wird anderen und der ganzen Sache geschadet, aber der eigene Nutzen bewahrt: Der besteht darin, auf der sicheren Seite zu sein. Es ist also nicht dumm, auf der sicheren Seite zu sein.
Aber es ist unendlich räuberisch! Nur weil ein paar auf der sicheren Seite stehen, sterben später resistente Menschen an einer Lungenentzündung oder an einer „schweren Infektion“ im frühen Alter. Nur weil Eltern, Lehrer und Anführer auf der sicheren Seite stehen, schaffen sie Erniedrigte. Das ist tief amoralisch, weil für einen kleinen Nutzen ein großer Schaden entsteht. Ein Räuber ist dagegen harmlos! Er stiehlt uns tausend Euro, die fehlen uns dann. Schaden und Nutzen sind gleich! Aber das Stehen auf der sicheren Seite schadet anderen viel mehr als es nützt…
Die Dummheit steckt im ganzen System „der sicheren Seite“.
Weil es die sichere Seite so definiert, wie es sie definiert –
deshalb schadet das System seinen einzelnen Teilen erheblich, ohne
dass es insgesamt selbst einen Nutzen davon hätte. Und das ist
nach Cipolla perfekte Dummheit. Ach ja. Wie heißt es über
den gnadenlosen Wettbewerb in der Wirtschaft? Ich formuliere Ihnen
einmal ein heute allgemeines Credo nach Adam Smith und der Unsichtbaren
Hand des heilenden Marktes ein bisschen böswillig um. „Wenn
jeder seinem Wettbewerber stark schadet, damit es jedem selbst ein
bisschen nützt, dann kommt insgesamt ein großer Wohlstand
für alle heraus.“ Und damit ist das Todesurteil über
die derzeitige Weltordnung gesprochen… Ich höre auf. Kann
doch nicht sein! Wär doch zu dumm.