Grenzwert-Ethik (Daily Dueck 138, April 2011)

Wir verlieren unsere Mitte.
Die Mitte ist das, was allgemein geboten erscheint.
Weiter draußen ist eine Grenze, deren Überschreiten verboten werden muss. Dort leben wir.

Extremes Effizienzdenken führt immer zu grenzwertigen Lösungen. Die Sportler dopen genau bis zur erlaubten Grenze. Ein Blutkörperchen zu viel und sie landen im Gefängnis – und zetern herum, dass sie wegen eines Nanogramms gesperrt werden! Dieses eine Nanogramm ist schuld! Nicht etwa das Doping an sich. Wir messen den Abstand zum Verbotenen, nicht zur Mitte hin. „Ich fahre immer genau 1 km/h langsamer als es den Führerschein kostet, jetzt habe ich einmal die Konzentration verloren – sofort haben sie mich erwischt. Das ist ungerecht – total ungerecht, ich war nur 1 km/h in der Führerscheinverlustzone.“ Immer haben wir die Gesetzesgrenze im Auge, nicht das Vernünftige oder Gebotene.

Die Banken treiben die Eigenkapitalrendite hoch, indem sie möglichst kein Eigenkapital einsetzen. Das hat zur Finanzkatastrophe geführt. Die Staaten nehmen so viele Schulden auf, wie sie nur können. Sie müssten eigentlich nach Maastricht/Lissabon bestraft werden – ein bisschen, aber sie verschulden sich weiter bis zum Gelddrucklizenzverlust. Die Pharmariesen versuchen, grenzwertige Medikamente in den Markt zu bringen, die Gentechnologen grenzwertig veränderte Pflanzen. Die Atommeiler laufen an den Grenzwerten entlang, so dass sie nicht gerade in der Amtszeit des derzeitigen Vorstandes Scherereien machen, was dessen Optionen verhageln würde. Pfui, ist die Wirtschaft vielleicht grenzwertig!

Wir aber selbst doch auch? Wir lernen für Klausuren gerade so, dass wir die Hälfte der Punkte bekommen. Das reicht haarfein zum Bestehen, nicht zum Können. Wir studieren so lange wie die Familie nicht wegen der Kosten einknickt oder ein vorgestellter Arbeitgeber nicht über die Lebenslauflücken in der Bewerbung mault. Wir arbeiten uns dann gleich danach wild ehrgeizig gerade bis an den wohl erarbeiteten Burnout heran. Wir brechen uns auf Kosten der Gemeinschaft die Knochen bei grenzwertigen Sportarten, wir reizen unsere Süchte bis an die Grenze aus. Wir betrügen bei Steuern und Versicherungen, haben schwarzes Geld und behandeln gute Mitarbeiter gerade so schlecht, dass sie so eben nicht kündigen.

Wo halten wir inne? Nur am Stacheldraht? Nur vor dem Gefängnis? Wir leben in einer Welt der roten Schilder, die des Verbotes. Wir wissen gar nicht mehr, was auf den blauen steht, die uns vernünftige Richtwerte empfehlen. Immer schlängeln wir uns an Grenzen entlang, hinter denen es uns erwischt. Leider erwischt es hinter den Grenzen auch andere. Mein Unfall ist auch euer Unfall! Mein gentechnischer Fehler eurer! Mein Atomunfall ist einer des Landes und seiner Nachbarn! Das Reinreißen der Anderen scheint uns ganz egal. Exferno den anderen! Der Idee des Jahrhunderts heißt Externalisierung, also das Abdrücken von Kosten oder Risiken an andere da draußen oder die jungen Digital Natives, die in den Eierstöcken startklar auf unsere Schadensbewältigung warten.

Ethik sagt, was wir tun sollen. Optimierung führt an die Grenze des Erlaubten. Wollen wir uns nur an der orientieren? Nicht an der Mitte der Einsicht? Dann werden wir also kämpfen – weil wir zwar andere zu schädigen bereit sind, aber selbst keinen Schaden haben wollen. Wir werden zwar keinen Krieg führen, aber wir werden die Grenzpfähle zu unseren Gunsten verschieben. Früher waren das Länder- und Grundstücksgrenzen oder die Grenzen des Bleigehaltes in Goldmünzen. Heute ersticken wir in Grenzwerten für alles! Für jeden Inhaltsstoff, für jede Beratung, für jede Rechtshandlung, für jedes Qualitätsmerkmal, für jede Prüfung…

Was wären wir heute ohne Computer? Ohne sie könnten wir gar nicht so genau an den Grenzen des erlaubten operieren! Wir würden ohne sie zu ungenau und groß operieren und müssten wie früher einen erklecklichen Sicherheitsabstand zum Gefängnis wahren! Mit dem Computer aber können wir immer auf Messers Schneide tanzen, optimal bis zum Tod. Das Leben in der ruhigen Mitte ist nicht profitabel genug und müsste wegen mangelnder Wettbewerbsfähigkeit eigentlich schon gestorben sein. War jemand kürzlich noch da?
Gibt es eine Mitte?
Da, wo die blauen Schilder stehen und die Sonne scheint? Da, worüber die neue Ethikkommission neue Grenzwerte des Erlaubten diskutiert?

Gunter Dueck

© 2005 Gunter Dueck l design: nukke.de (ad+bvp)