Links im Sinnraum
Schneebubbles und die drei Mu (Daily Dueck 132, Januar 2011)
Ganz ruhig fallen die weißen Flocken und schneien uns zu. So haben wir uns den Winter ge-wünscht. Nun aber stecken wir im Verkehr fest und warten auf unser Schicksal. „Das ist höhere Gewalt!“, sagen uns die Verantwortlichen, aber es ist das Fehlen von Reserven oder besser gesagt Skrupellosigkeit. Sie merken, ich bin gereizt. Ich saß ein paar Stunden in einem Terminal ganz ohne Sitzgelegenheit, der Laptop-Akku war leer, so dass ich zu nichts mehr zu gebrauchen war.
Erinnern Sie sich an den strengen Winter 2009/2010? Das Salz war
im Frühjahr knapp. Das Fernsehen zeigte Bilder von leeren Lagerhallen.
Jetzt haben wir den nächsten Winter, er ist noch ganz jung, ein
paar Tage alt. Aber Salz für 2010/2011? Die Supermärkte
melden den kompletten Ausverkauf und schimpfen auf Verbraucher, die
sich noch nicht für den ganzen Winter bevorratet haben. Lebkuchen
gibt es aber noch, obwohl wir uns eigentlich schon im September mit
einem Halbjahresbedarf hätten eindecken können!
Die Bahn entschuldigt sich für „Störungen im Betriebsablauf“
wegen eingefrorener Weichen, die im Prinzip beheizbar wären –
man wollte die Kosten aber nicht tragen. Alle Züge sind im Einsatz!
Reservezüge gibt es kaum. Sie sind eingespart. Fällt einer
aus, fährt er eben nicht. Fahrplatzreservierer finden ihre Waggons
leider nicht, weil sie eben heute nicht fahren. Der Fahrplan ist so
angelegt, dass er davon ausgeht, dass ständig die höchstmögliche
Geschwindigkeit gefahren wird. Verspätungen können deshalb
nie eingeholt werden wie in der Schweiz, wo die Züge in wichtigen
Bahnhöfen ein paar Minuten länger als nötig halten.
Die Landebahnen der Flughäfen sind überlastet – auch
schon im Sommer, wenn Minute für Minute die Flugzeuge wie auf
einer kunstvollen Perlenkette einschweben. Diese Reihenfolge ist sorgsam
geplant, die Zeit wird bestmöglich genutzt. Der Plan ist aber
instabil wie ein Kartenhaus. Was passiert mit einer optimalen Mailuftlandeplanung,
wenn nun im Dezember ab und zu Schnee von der Landebahn geschoben
werden muss? Da fehlen immer ein paar Minuten und die Landezeit für
ebenso viele Flugzeuge. Die Abflüge sind genauso kritisch. Heute
versucht man, ein Flugzeug erst dann starten zu lassen, wenn die entsprechende
Landung schon zeitlich genau sicher ist. Der Startslot wird also per
Computer mit dem Zielflughafen abgestimmt. Wenn nun aber dort am Ziel
plötzlich Schnee fällt, entsteht das Chaos auch am Startflughafen.
Das Ganze ist ein Effizienzcrash. Das System ist sehr eng geplant
– ohne Reserven. Alles Lean Management pur nach westlichen Standards.
Aus Profitstreben ist das System auf Schönwetter ausgelegt, so
etwa wie die öffentlichen Haushalte immer von Wachstum, Frieden
und Steuererhöhungen ausgehen. Wenn nun irgendetwas in der Art
schlechten Wetters passiert, ist es höhere Gewalt.
Im Klartext: Das Risiko wird von uns allen getragen, nicht von denen,
die uns König Kunde oder Herrscher Wähler nennen. Wir tragen
die Folgen der Störungen im Betriebsablauf ebenso wie die plötzlich
fehlende Eigenkapitaldecke der Großbanken. Der Staat zahlt jetzt
für seine exorbitanten Schulden nur zweieinhalb Prozent Zinsen
und überlebt es gerade so. In ein paar Jahren werden wieder siebeneinhalb
die Regel sein und unser Staat bricht zusammen. Das wissen wir jetzt
nicht, weil wir im Augenblick in einer Krise stecken und uns nicht
um einen fernen Winter kümmern „können“.
Effizienz! Effizienz! Lean Management! Sparen! Möglichst keine Ressourcen verschwenden! Das ist das Mantra des Managements. Ach ja. Ich schlage vor, alle machen einen Steilkurs in Wirtschaft und schauen unter „Kaizen“ (Veränderung zum Besseren) in der Wikipedia nach. Dort gibt es die 3-Mu-Liste: Muda, Muri, Mura.
• Keine Verschwendung! (Muda)
• Keine Überlastung von Mitarbeitern und Maschinen! (Muri)
• Keine Unregelmäßigkeiten in den Prozessabläufen!
(Mura)
Das sagt die reine Lehre. Und was sehen wir so oft? Es scheint, dass
viele Manager von der Dreier-Liste nur den ersten Punkt gelesen haben
und nur sparen und einsparen und kaputtsparen. Derweil sind Überlastungen
von allem im Namen des Sparens gewollt und Unregelmäßigkeiten
die Regel. Wieso hält sich niemand an banale Weisheiten wie die
der drei Mu? Sie sind doch sogar wissenschaftlich untersucht und tragen
schöne Buzz-Bezeichnungen.
Ich kenne nur eine Erklärung. Wir lebten Anfang der 80er Jahre
in einem Schlaraffenland. Wir arbeiteten nur 35 Stunden und stöhnten
dennoch. Ich erinnere mich an einen Kabarettisten, der im Radio die
Forderung der Gewerkschaften nach einer 30-Stunden-Woche verulkte:
„Ich stellte mich vor sie und kündigte an, dass wir nur
noch Mittwochs arbeiten würden. Da schrie einer der Arbeiter,
ob ich echt jeden Mittwoch meinte!“
Unregelmäßigkeiten gab es nicht, alles war für alle
Ewigkeit und für alle Extremkatastrophen wie drei Tage Schnee
ausgelegt. Es gab nur Verschwendung, alles andere war okay.
Im maskulinen, unparallelen westlichen Management arbeitet man alles
streng nach der Reihe ab. Man fing deshalb mit dem Sparen an! Es stand
zum Glück am Anfang der Liste. Das trieb und treibt man so lange,
wie es nicht mehr geht. Dann ist das erledigt. Haken dran. Fertig.
Das viele Totsparen hat leider zu Überlastungen und Unregelmäßigkeiten
in den Betriebsabläufen geführt. Die müssen wir nun
beseitigen, koste es, was es wolle. Fangen wir also mit dem zweiten
Element der Liste an, mit Muri. Alles klar?
Machen wir das jetzt im neuen Jahr 2011?
Wir müssen zuerst die Burnouts der 80-Stunden-Maniacs zurückfahren.
Klar? Also Überstunden herunterfahren. Das kostet aber Geld und
stellt die Einsparerfolge infrage, die niemals aufgegeben werden können!
Wir können das Totsparen nicht rückgängig machen, weil
die Gewinne sinken könnten! So glauben wir.
Mathematisch gesehen bedeutet es: Wir fühlen uns in einem Suboptimum
gefangen. Für Laien: Wir sitzen in der Patsche. Wie kommen wir
da heraus? Das ist klar, der Gewinn steigt, wenn alle drei Mu beachtet
werden. Wir müssen zurück, verstehen Sie? Nein, fürchte
ich, Sie verstehen nicht, sonst würden Sie ja nicht totsparen!
Mu-Mu-Mu! Wer im Lande kann mehr als ein Mu? Ich würge eine zarteste
Versuchung ab, etwas Unwitziges zu schreiben.