Links im Sinnraum
Dauermeckern über das Fastoptimale (Daily Dueck 131, Dezember 2010)
Silvesterurlaub! Wir wollen nach Südtirol. Wie kommen wir dahin? Über den Brenner? Ja sicher, aber über Füssen oder München? Die Strecken sehen kaum unterschiedlich aus. Ich stelle mir schon vor, wie ich nach München abbiege, das Navi aber nach Füssen will. „Bitte wenden!“ Na gut, nach einiger Zeit beruhigt es sich ja wieder. Es nimmt irgendwann hin, dass ich anders fahren will. Das ist in Heidelberg und Mannheim anders! Da meckert es die ganze Zeit, als wär‘ es meine Mama. Oh, dahinter steckt eine wesentliche Lebenslehre!
Die muss ich gleich loswerden. Wenn es zwei Strecken gibt, die sich
in der Streckenführung wesentlich unterscheiden, und wenn ich
die nicht vom Navi gewählte nehme, dann brüllt es längere
Zeit, ich solle einen U-Turn machen. Immer und immer wieder sagt die
Frau im Navi wie meine Mama: „Bitte wenden!“ Irgendwann
aber stellt das Navi fest, dass ich schon so lange falsch gefahren
bin, dass es sich nicht mehr lohnt, den ursprünglichen Plan zu
verfolgen. Also schickt sich das Navi in die Notwendigkeiten des Lebens
und führt mich nun brav ans Ziel, jetzt aber entlang der von
mir eigenmächtig gewählten Route.
Stellen Sie sich vor, ich hätte einen Beruf gewählt, den
meine Mutter nicht leiden kann. Ich studiere und studiere, sie schimpft
und schimpft. Immer lauter will sie, dass ich umkehre. Ich mache aber
ein Diplom! Da resigniert sie, weil ich jetzt eine gut bezahlte Stelle
bekommen kann. Immerhin. Es hat jetzt für sie keinen Sinn mehr,
mich an ihren alten Wunsch nach einem vermeintlich besseren Beruf
zu erinnern. Okay, ich bin etwas anderes geworden. Sie muss nun mit
der Mühe beginnen, darauf stolz zu sein.
Macbeth sagt bei Shakespeare:
„Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen,
dass – wollt ich nun im Waten stille stehn,
Rückkehr so schwierig war als durchzugehn.“
Irgendwann sind die Brücken hinter uns abgebrochen.
Ganz anders reagiert mein Navi in Heidelberg oder Mannheim. Heidelberg
liegt länglich am Neckar. Wenn ich es längs durchfahre,
sind fast alle sinnvollen Straßen gleichlang. Mannheim ist die
Quadratestadt, da kann man im Prinzip zig verschiedene Routen durchs
Zentrum finden, die alle gleich lang sind. Das geht nicht wirklich,
weil es von Einbahnregelungen nur so wimmelt.
Ich will damit einfach nur sagen, dass es in vielen Situationen ziemlich
viele sinnvolle Lösungen gibt! Das ist beim Durchqueren von Heidelberg
oder Mannheim der Fall. Also fahren wir los! Das Navi hat sich aber
von den vielen, vielen Lösungen eine einzige in den Kopf gesetzt
und mault jetzt, dass ich ganz falsch fahre. Es mault ständig,
weil es immer wieder sehr viele Lösungen für die Reststrecke
gibt! Das Navi mault und mault.
Ab und zu schlägt es doch wie Macbeth eine neue Route vor, aber
die nehme ich wieder nicht – und es meckert. Die Frau im Navi
beruhigt sich nicht! Ich kann alle möglichen Strecken fahren
– jeden Tag eine andere, und sie sind alle gleich gut. Aber
sie sind nicht genau die Strecke, die die Frau im Navi will. Sie meckert
immer – die ganze Strecke über! Es liegt daran, dass es
in diesem Fall viele fast optimale Lösungen eines Problems gibt.
Der Inspektor, der dann auf der genau optimalen Lösung bestehen
will, kommt dann aus dem Schimpfen nicht heraus, wenn alle Leute ganz
ungeniert und unbekümmert 99-Prozent-Lösungen aus dem hohlen
Bauch heraus wählen. Da wird der Inspektor wahnsinnig!
Das wollte ich sagen! So sind unsere Chefs! So bauen sie die Geschäftsprozesse!
So reden unsere Eltern, wenn wir gute Lösungen wählen, aber
nicht die besten! „Wir wissen, was das Beste für dich ist!“
In vielen Unternehmen schreiben die Geschäftsprozesse haarklein
zu hundert Prozent vor, wie etwas abgewickelt werden muss. Wenn wir
abweichen, gibt es Ärger… Sie meckern und meckern. Sie
haben ihre über unseren Kopf hinweg beschlossenen Hundertprozentoptima.
Wir müssen genau so arbeiten, wie es „amtlich“ vorgesehen
ist.
Immer schön „compliant“ sein! Irgendwann resignieren
wir und folgen dem Boss, wie der Mama oder wie dem Navi, damit er-sie-es
nicht wieder meckert. Irgendwann macht der gutwillige Ehepartner alles,
was der dominante will. Ab und zu stürzt ein LKW ins Meer, weil
das Navi es so wollte. Öfter und öfter stirbt ein Unternehmen,
weil nur noch einer sagen durfte und nicht mehr konnte, wo es lang
gehen sollte. „Das sieht doch ein Blinder!“, pflegte er
zu sagen, auch als sein Augenlicht schon nachließ.
Lassen Sie uns nie vergessen: Es gibt sehr viele Wege nach Rom! Viele
davon sind fast so gut wie der beste Weg. Lassen Sie diejenigen ihren
eigenen Weg gehen, die einen guten Weg wissen. Es kommt nicht nur
darauf an, dass ausnahmslos alle den besten Weg gehen, den ein einziger
genau weiß. Es ist wichtiger, dass es sehr viele Menschen gibt,
die zu jeder Zeit einen sehr guten Weg wissen.