Radikale Konstruktivität! Wohlwillen! (Daily Dueck 13)

Der radikale Konstruktivismus ist eine philosophische Richtung, die lehrt, dass wir die Wirklichkeit subjektiv erfinden und nicht etwa objektiv entdecken, wie es sich viele Wissenschaftler einzubilden belieben. Es gibt also vor allem die eigene konstruierte Wirklichkeit. Objektives Erkennen ist gar nicht möglich! Wir sind nämlich Opfer unserer Sinneswahrnehmungen, jeder eines der eigenen. Wir können uns höchstens intersubjektiv darüber verständigen, wie lang ein Meter ist! Und schon das ist schwierig!

Es gibt Experimente, bei denen eine Gruppe von Personen einige Stäbe zu sehen bekommt, die bis auf einen längeren alle gleich lang sind. Die Gruppe besteht aus etlichen Psychologen und einer einzigen Versuchsperson, die das nicht weiß. Die Gruppe soll durch Diskutieren herausfinden, ob die Stäbe alle gleich lang sind oder nicht. Die Psychologen diskutieren nun so, als seien die Stäbe gleichlang! Gemein, was? Dann stimmen am Ende viele Versuchspersonen zu, dass die Stäbe gleich lang sind, obwohl es offensichtlich nicht stimmt!! Es gibt seltene Spezies wie mich, die dann bis zur Selbstaufgabe leidenschaftlich: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders! Und brechet ihr auch den Stab über mich!“ brüllen, aber ganz viele stimmen in den Chor mit ein. Man kann sich also auch beliebig darauf neu einigen, wie lang ein Meter ist.
Da fallen mir ganz viele Meetings in allen möglichen Firmen ein – es reicht dort aus, dass die überwiegende Gehaltssumme ganz sicher darüber ist, wo es gleich lang geht.

Gibt es denn gar nichts Objektives mehr? Zum Beispiel den mathematischen Beweis in meiner Doktorarbeit? Da machen zumindest die Naturwissenschaftler nicht mehr mit. Die halten sich natürlich für objektiv. Für manche Mathematiker stimmt das wahrscheinlich sogar, aber die zählen dann für viele andere subjektive Menschen schon gar nicht mehr zu den Menschen im engeren Sinne. Naturwissenschaftler können mit ein bisschen Zureden einen Sozialkonstruktivismus akzeptieren. „Nur das Soziale ist konstruiert, die Natur nicht.“ Na gut.
Wir Menschen sind also Eigenkonstruktionen, die aus unseren Wahrnehmungen eine Welt gezimmert haben? Ich bin meine Konstruktion – Sie Ihre? Wenn ich bei Douglas an Parfümen rieche, dann finden meine Sinne, dass die meisten Parfüme ziemlich abartig stinken. Wer kauft die denn? Na, das werden Sie auch finden, wenn ich vor Ihnen mit Versace Green Jeans herumlaufe. Sehen Sie? So beurteilen wir nicht nur unsere Parfüme, sonst auch uns gegenseitig. Deshalb muss man auch so lange suchen, bis man einen Lebenspartner findet, der einem nicht gleich stinkt.

„Der Konstruktivismus kann keine Ethik produzieren,“ meint Ernst von Glasersfeld, einer der Väter des radikalen Konstruktivismus. Der radikale Konstruktivismus hat also keine eigene Ethik hervorge-bracht! Kann das sein? Mir ist gerade so nach Weihnachten zumute, da möchte ich doch etwas dazu sagen. Was, bitte, hat Ethik mit Erkenntnis zu tun? Ethik denkt nach, was sein soll, nicht über das, was objektiv ist.

Und das, was sein soll – das nenne ich für meine subjektive Konstruktion

Radikale Konstruktivität! Wohlwillen!

Das fühle ich subjektiv. Das soll in mir sein. Ich bin verantwortlich, eine subjektiv gute Welt um mich und in mir immer weiter mit einem Wohlwillen zu konstruieren, der nie erlahmt. Ich finde, ich soll meine eigenen Wahrnehmungen der Sinne mit dem Ziel der radikalen Konstruktivität steuern. Ich soll meine subjektive Rolle auf dem Weg aller finden. Ich soll die subjektiven Konstrukte, die die anderen Personen darstellen, achten und sie nicht zwingen, wie ich selbst wahrzunehmen und sich zu konstruieren wie ich. Ich soll anderen helfen, sich zu konstruieren und ich soll meine Kinder artgerecht halten, auf dass sie sich subjektiv radikal konstruktiv konstruieren können. Ich soll streben, voller Wohlwillen das Rechte wahrzunehmen, was für mich das subjektiv Wertvolle ist. Ich will das andere Wertvolle in Ihnen achten und respektieren.

Ich will radikal konstruktiv sein. Ich bin mein Schöpfer. Ich bin mein Geschöpf.
Wenn ich einst zur Ruhe muss, will ich wohlgetan haben.
Ich muss gar nicht objektiv sein – nicht erkennen – mich dafür nicht selbst aus dem Paradies treiben …

In der Szene reden sie heute von Bodymodding, der bewussten subjektiven Modifizierung des eigenen Körpers, am besten unter objektiv besten Mustervorlagen von der prall gefüllten CD „Pam’s Greatest Tits“. Immerhin bringt es der radikale Konstruktivismus zu einer eigenen Ästhetik?

Ethik geht auch! Radikale Konstruktivität!

Gunter Dueck

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