Cut & Paste Management (Daily Dueck 129, November 2010)

Schluss mit der alten Bildung! Das fordere ich und sehne das Ende der Kreidezeit in Schule und Universität herbei. Das digitale Zeitalter lässt doch bessere Möglichkeiten zu! Eine große Menge von Digital Immigrants protestiert gegen diese Meinung. Tja. Diese digitalen Immigranten, die sich partout nicht integrieren wollen, können von Glück sagen, dass es noch keine Statistiken der Bundesbank von ihnen gibt! Sonst wären sie schon von Sarrazin entdeckt worden. Ihr Hauptargument gegen das Internet der Bildung: Dann schreiben alle Schüler und Studenten nur noch ab. Sie denken dann nie mehr selbst nach! Da schaue ich entgeistert in der Arbeitswelt um mich. Was sehe ich?

Wenn Sie eine schwach sadistische Ader haben, fordern Sie einmal alle Anwesenden in einem Problemlösungsmeeting auf, selbst nachzudenken. Warten Sie auf die Reaktionen. Dann muss ich jetzt nicht mehr weiterschreiben. Ich wette aber, Sie trauen sich das nicht! Sie blamieren sich nämlich. Man löst Probleme in der Realität gar nicht mit Nachdenken, sondern mit Actions Items. Nachdenken wird als Kaffeekränzchen in die Ecke gestellt. In einem Meeting werden „Aktionen aufgesetzt“ und die Zuständigen bestimmt, die als erste die Action-Vorschläge erarbeiten müssen. Sie müssen sich dazu in einer Work Group zusammensetzen und eine Präsentation ausarbeiten. Eine gute Präsentation über ein Problem löst das Problem für ein paar Tage. Wie aber kommt man in der kleineren Work Group zu einer Präsentation?
Da sitzen sie erst noch kleinlaut zusammen und wissen nicht, wie sie ihre Hausaufgaben erledigen sollen. An dieser Stelle wäre es wieder ganz neckisch, wenn Sie sie zum Nachdenken auffordern würden. Das wäre jetzt schicklich – die Atmosphäre ist privater, es ist nun kein Meeting mehr, sondern man „sitzt zusammen“. Also frisch ans Werk: „Lasst uns nachdenken, hat schon einer eine Idee?“
Jetzt kommen die üblichen vollkommen stereotypen Antworten, die Sie alle kennen, die Sie aber noch nie als digitale Immigranten betrachtet haben:

„Na, wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Die Probleme, die wir uns eingehandelt haben, haben andere doch auch. Ich bin sicher, dass irgendwo der gleiche Mist wie bei uns angestellt worden ist und dann die Hausaufgaben nicht erledigt worden sind. Es muss also irgendwo schon Präsentationen mit Lösungsvorschlägen geben, aus denen wir ein paar Charts klauen können, am besten mit vielen Zahlen und Tabellen, mit denen wir auftrumpfen werden. Kennt jemand einen, der so ein Problem schon einmal hatte? Könnten wir eventuell bei der Konkurrenz anrufen? Ich weiß, das klingt komisch, aber es gibt viele Ehepaare, die mit Wettbewerbern verheiratet sind. Da kann man gut abkupfern, die Ideen sehen ein bisschen wie neu aus, man muss nur die Logos und Farben ändern. Das ist allerdings eine Drecksarbeit, deswegen macht man es letztlich nicht. Ich bin dafür, dass wir etwas finden, was sich leicht abschreiben lässt.“
„Sollen wir nicht einmal nachdenken?“
„Nein, das wäre nicht gut. Dann haben Sie vielleicht eine neue Idee! Wie ich die Firma kenne, gibt es aber schon andere Leute, die dazu Ideen hatten. Die werden dann böse und wir bekommen für unsere Präsentation Prügel und keinen Bonus wie sonst immer. Kennt jemand einen, der eine Präsentation haben könnte… Ah, Herr Alt, waren Sie nicht einmal in einer Taskforce, damals, als ich hier noch Werkstudent war und nicht Manager?“
„Ja, wir hatten damals das gleiche Problem, wenn man so will. Wir nannten es Q oder so wie Qualität. Ich glaube, es ist dasselbe, was wir heute mit Product Excellence bezeichnen. Es ging damals darum, dass zu viel Ausschuss produziert wurde. Wir dachten damals nach, wie das vermieden werden konnte, aber plötzlich wurde von einem sehr ehrgeizigen Manager zum Schein ein Mickey-Mouse-Plan entwickelt, auf dem nur Action-Phrasen aufgezählt wurden. Diese Präsentation hatte einen so großen Erfolg, dass alle darüber redeten. Über dieser ganzen Freude wurde die Qualität wieder ganz vergessen. Wir brauchten damals dringend Präsentationen für neue Probleme, die noch viel schlimmer waren. Sie entstanden wegen der schlechten Qualität, waren aber so schlimm, wie gesagt, dass wir beschlossen, sie zuerst zu lösen.“
„Ja, machen Sie es kurz, Herr Alt, Sie erzählen wieder so ausschweifend und spannen uns genial quälend auf die Folter. Haben Sie die Präsentation noch?“
„Ja, ich habe sie mir aufgehoben als ein warnendes Beispiel, wie man es nicht machen soll. Ich habe später erfahren, dass die Präsentation aus einem Buch abgeschrieben war, das die Freundin vom damaligen Manager im Studium raubkopiert hatte.“
„Ja, her damit!!“
Zehn Minuten später. „Schau, schau! Sensationell, seht mal den Namen vorne auf der Präsentation! Haha! Haha, wir geben ihm die eigenen Vorschläge, die kann er nicht ablehnen! Einfach Cut & Paste und wir sind fertig! Wir haben Erfolg, weil alles akzeptiert werden muss!“
„Das glaube ich nicht, ich kenne die Firma schon lange. Er wird sich gar nicht an die Inhalte seiner Präsentation erinnern. Wir werden das ja in einigen Wochen auch nicht können. Wir klauen jetzt ganz ungelesen die Argumente auf den Charts, machen eine neue Grafik und eine höhere Jahreszahl dazu und fertig. Wir haben uns ja mit dem Problem an sich mental gar nicht befasst.“
„Hey, Sie sind aber zynisch, Herr Alt. Unser Problem hier war für heute die ganze Zeit, eine Präsentation zu erstellen, und dieses Problem haben wir soeben gelöst.“

Früher, als ich noch jung war, wussten wir nicht, wie wir die Nibelungen interpretieren sollten. Wir gingen zum Hauptbahnhof Hildesheim, wo noch heute die Schülerwarteraumbibliothek am Gleis 1 geöffnet hat. Dort hatten sie alle Bücher dazu. Ich erinnere mich, wie ich einen sehr schwungvollen Satz in einem dazu gefunden belletristischen Werk entdeckte. Er lautete ungefähr: „Kriemhild! Da kam Siegfried und nahm Hagen den Wind aus den Segeln.“ Mir war klar, dass das hemmungslos überinterpretiert war, aber der Satz war damals für mich so schön, dass ich ihn in der folgenden Klassenarbeit verwendete. Uiiih, das gab rote höhnische Bemerkungen am Rand. „Fernau gelesen! In der Buchclubausgabe!“

Hallo? Digitale Immigranten? Google ist immer unter uns gewesen. Cut & Paste war immer da, wenigstens für Leute mit Bibliothek. Heute ist Cut & Paste für jeden! Alle klauen! Keiner liest die geklauten Präsentationen mehr durch oder durchdenkt sie gar. Das beweisen die Rechtschreibefehler und Sprachgemische. Alle tun das doch! Warum werden wir nur bei unseren Kindern ärgerlich? Warum sagen wir immer selbst „Wir haben unsere Hausaufgaben nicht gemacht?“ Warum ist das Problem gelöst, wenn es auf Folien steht? „Papa, ich muss das nicht verstehen. Ich muss nur eine akzeptable Note haben.“

Cut & Paste ist in uns. Nicht im Internet. Wir vererben es.

Gunter Dueck

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