Identitätsfassaden (Daily Dueck 125, Oktber 2010)

Was steht denn da auf Ihrer Visitenkarte? Leiter Facility Hub Execution Staffing. Aha…? Ist das eine Arbeit oder ein Job? Was machen Sie da eigentlich? Ist das wichtig? Sind Sie ein Firmenchef oder einer, der Zeitkräfte anwirbt, die er zu Aufräumarbeiten im Keller verbraucht? Soll ich die Visitenkarte aufheben oder gleich wegwerfen? Was steht da an den Büroschildern im Flur oder auf Xing? Ich übe mich im Beruferaten…

Über den Wahnsinn auf den Visitenkarten ist vielleicht schon alles gesagt worden. Man nimmt gemeinhin an, dass Titelsüchtige nach dem Direktorentitel gieren und sich dann, wenn sie einen solchen nicht bekommen, in ihrem unausgefüllten Inneren eine amateurhafte Kreativität unter Egostress ansammelt, so dass sie sich die aberwitzigsten Berufsbezeichnungen ausdenken. So wie in den Zeugnissen von Mitarbeitern alles großartig ist, so sind auf Visitenkarten alle Leader, Executives, Manager, Leiter, Teamleader, Projektleiter, Gruppenleiter oder Nano-Halogen-Rezeptoren Subject Matter Senior Certified Experts.
In der Universität herrscht noch eine gewisse Ruhe, es gibt einen Doktortitel, der mit dem Fachzusatz der verleihenden Fakultät geschmückt ist. Dr. math. oder Dr. phil. Etc. Stellen Sie sich vor, die Doktortitel würden nun statt der normierten Bezeichnungen nat oec jur med chem das genaue Spezialgebiet des Betreffenden charakterisieren! Dann wüsste jeder sofort, worin der Titelinhaber Bezirksmeister ist, oder? Das wäre fein!
Dr. faustzweizeile12110-11interpretabschreibrecherchvergleichbildkommentarlotharmatthäus könnte dann der Titel lauten, den nur dieser eine Inhaber besitzt! Man braucht dann eigentlich schon gar keinen Namen mehr im Telefonbuch, der Titel allein identifiziert den Träger. Okay, ich weiß, was Sie denken: das ist wieder so ein extremer Vorschlag von GD, damit er sich lustig machen kann. Aber jetzt lehnen Sie sich einmal zurück und überlegen, was eigentlich auf den Visitenkarten in Ihrem Unternehmen steht. Wie viele verschiedene Jobbezeichnungen gibt es?
Ja – eventuell auch ungefähr so viele wie die Anzahl der Mitarbeiter? Es kann ja noch sein, dass in Hamburg und München je zwei identische Blumengießer sind, aber dann steht da doch hoffentlich „Plant Care Nurse & Nurturing Territory North“ und entsprechend „South“? Ich glaube langsam echt, dass es so viele Jobs wie Leute gibt. Die Visitenkarte beschreibt dazu noch diesen einen Job in ungelenkem Amerikanisch, damit ihn keiner mehr versteht oder einordnen kann. Danach wird er in einer zusätzlich Stufe nach Art des Marketings noch einmal aufgemotzt. „Pimp my title!“

Das ist der eigentliche Irrsinn. Das Aufpimpen (ursprünglich „wie einen Zuhälter zurechtstylen, der sich gerade mit seinen ebenso schönen Begleiterinnen in die erste Reihe bei einem Boxkampf setzen will“) macht jetzt diejenigen nervös, die mit ihrer Visitenkarte ehrlich sagen möchten, was sie in welchem Rang tun, etwa „Leiter Marketing“. Aber was ist das denn nun, Leiter Marketing wovon? Zweigstelle Düsseldorf? Dann würden wir „Leader Marketing, Upper Rhine Valley Area (URVA Zone, Germany)“ erwarten. Ich fürchte, die Vernebelung ist soweit fortgeschritten, dass man auch das Echte nicht mehr klar sehen kann. Stellen Sie sich vor, im Bierregal des Supermarktes steht neben Baumbier, Kellerbier, Naturbier, Räuberbier, Urvatterbier, Waldquellplätscherbier nur einfach Pils! Oder nur Altbier, das in der Flasche offenbar schon ganz braun geworden ist! Das ist zu arg schlicht.

Ich denke beim Schreiben darüber nach, was man alles stattdessen plakativ informativ auf die eine Karte setzen könnte. Das Gehalt! Ja, das wäre es! Das drückt doch genau aus, wie viel einer die anderen kostet. Das wollen doch eigentlich alle wissen. Wie viel verdient einer – und was macht er im Gegensatz dazu für einen persönlichen Eindruck? Oder ein Bild von seinem Auto oder der Armbanduhr, der Handtasche? Hmmh, auch alles nicht echt.
Was in aller Welt, frage ich mich, würde ich gut finden? Ich habe so etwa zwei Kilogramm von Visitenkarten in meinem Schrank. Ich finde da nichts mehr. Ich habe da nie gesucht. Ich lösche einfach fast alle Mails und hebe die echten auf. Das geht irgendwie. Was schreibe ich jetzt auf meine eigene Karte? Irgendetwas, worauf die Leute „das sieht dir ähnlich“ sagen? Aber corporateblau muss es auch sein, klar.

Hmmh, da fällt mir ein, dass es vielleicht doch keine Vernebelung sein könnte. Wir können ja gar nicht mehr genau sagen, was wir arbeiten. Buchhaltung ist eine Art Verbindungsbüro nach Vietnam geworden, ein vormaliger Einkäufer mag den ganzen Tag nur noch pro-forma Ausschreibungen faken, um nicht jede Schraube bei einem anderen Lieferanten kaufen zu müssen. Ein Beispiel: An der Universität legen sie die Professur des Cephalocereus Senilis („Greisenhauptkaktus“) mit der Professur für die Erforschung des Echinocactus Grusonii („Schwiegermuttersitz“) zusammen, was eine renommierte Beraterfirma gegen den erbitterten Widerstand aller Biologen durchsetzt („Man kann nicht gleichzeitig Fachmann für eine Säulenkakteenart und einen Kugelkaktus sein, da liegen fachliche Welten dazwischen!“). Leider sind die Säulen- und Kugelbiologen stark uneins und verlieren. Danach kommt ein anderes Beratungshaus und legt die neue Kombi-Professur mit der Stachelbeer- und der Igelprofessur zu einem Spitzencluster zusammen, weil das in der gesamten Industrie so üblich ist und schon seit Jahren erfolgreich praktiziert wird. In der Industrie werden schon lange einander ähnliche Arbeitsplätze zusammengefasst, zum Beispiel die, die ähnlich schlecht bezahlt werden oder Schreibtische nebeneinander haben. Im Management trägt dann jeder mehrere Hüte oder die Aufgabe, sich hart widersprechende Prioritäten mit sich selbst abzumachen. Ja...
...und was sagen nun diese künstlichen Hybridmitarbeiter in dem ganz kurzen Visitenkartenformat, was sie eigentlich tun? Was ist ihre Identität? Welch ein Gewirr hinter der folglich ebenso wirren Fassade!

Gunter Dueck

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