Patentrezept für Nachhaltigkeit (Daily Dueck 124, September 2010)

„Wir haben beschlossen, den Umsatz unserer Firma in zehn Jahren zu vervierfachen. Das ist unsere Strategie für die Zukunft. Wenn wir dieses Ziel erreichen, können wir hoch zufrieden sein. Deshalb haben wir uns für dieses Ziel entschieden. Der bewusst sehr weitgesteckte Horizont von 10 Jahren gestattet eine sehr langfristige und nachhaltige Vorgehensweise. Das ist neu und einzigartig. Wir sind damit Pioniere der Sustainability.“

„So, meine Herren…äh, ich schaue mich um, es stimmt zum Glück. Oops… Meine Herren, ich darf Sie zur Zehnjahresstrategiesitzung begrüßen. Unser Ziel liegt klar vor Augen. Wir haben dafür lange Zeit mit den konkreten Zahlen gerungen. Es ging vor allem darum, das Ziel für jedermann verständlich zu formulieren, damit diesmal auch jeder Mitarbeiter unseren neuen Ansatz versteht. Ich glaube, dass wir deshalb nicht so lästig viele Kommunikationskaskaden anstoßen müssen wie im letzten Planungszeitraum, als wir uns vornahmen, bessere Produkte herzustellen. Das gab peinliche Nachfragen bei Mitarbeitern, wie wir uns das vorstellen.
Natürlich müssen wir unser Ziel auch diesmal mit Aktionen unterfüttern. Wir müssen ja etwas tun, was anders ist als bisher. Denn wir haben noch nie in zehn Jahren den Umsatz vervierfacht. Streng genommen können wir es noch nicht, aber wir lernen ja stets aus unseren vergangenen Erfahrungen. Unsere Berater haben bestätigt, dass es prinzipiell möglich ist. Wir müssen nur nachhaltig sein, also immer dasselbe tun und nicht davon abweichen. Dazu fehlte uns in der Vergangenheit die Selbstdisziplin. Wir haben stets hektisch alle paar Tage neue Pläne gefasst, ohne die aus den letzten Tagen umzusetzen. Die Berater haben uns bescheinigt, dass unser Unternehmen in der Planungsphase sehr große Stärken besitzt. Wir müssen nur noch bei der Umsetzung stärker punkten als bisher. Das ist kein Problem, weil wir uns mit der Umsetzung bisher kaum befasst haben. Wir können also dramatisch besser werden, wenn wir es wirklich tun. Ich schlage also vor, mit der Umsetzung der Nachhaltigkeit sofort zu beginnen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Speed is absolutely critical for success. Das ist das neue Motto. Ich bitte um Vorschläge.“

„Wir setzen erst einmal die Incentives fest, so dass wir sehr viel Geld verdienen, wenn wir das Ziel schaffen. Danach halbieren wir unsere Abgabepreise ab Werk. Dadurch kaufen die Kunden wie verrückt. Sofort schießt der Umsatz steil in die Höhe, obwohl die Preise gesenkt wurden. Dadurch vervierfacht sich der Umsatz im Nu und wir bekommen die irre hohen Incentives.“ – „Kollege, das war einmal. Sie haben die Feinheit der Nachhaltigkeit nicht verstanden. Wenn Sie die Preise halbieren, vervierfacht sich zwar der Umsatz, aber unser Unternehmen ist gleich danach pleite. Folglich ist der Umsatz in zehn Jahren nicht vervierfacht.“ – „Aha, aha. Wir können also nur einmal in 10 Jahren abzocken, ist das so? Wer hatte dann diese blöde Idee mit der Nachhaltigkeit?“ – „Die Öffentlichkeit, wahrscheinlich auch die Berater, weil Nachhaltigkeit ein neuer Hype ist.“ – „Was hat die Öffentlichkeit damit zu schaffen, ob wir pleitegehen oder nicht? Okay, dann halbieren wir die Preise nach neun Jahren.“
„Das ist sehr risikoreich. Unsere Konkurrenz schläft ja nicht und sie wollen uns vernichten. Ich glaube daher, dass sie die Preise in acht Jahren halbieren, damit kriegen sie uns. Wenn wir dann mit der Halbierung ein Jahr später nachziehen, vervierfacht sich gar nichts.“ – „Aber ruiniert sich die Konkurrenz damit nicht, wenn sie die Preise nach acht Jahren halbiert?“ – „Ja, klar, aber sie bekommen die irren Incentives.“ – „Aha, ich verstehe. Wir müssen also irgendetwas ganz, ganz anders machen.“

Extrem langes Schweigen, also so etwa 20 Sekunden.

„Ich habe eine Idee. Zehn Jahre sind viel zu lang. Wir sagen einfach, wir verdoppeln den Umsatz in fünf Jahren und danach verdoppeln wir ihn in den nächsten fünf Jahren nochmals. Dann müssen wir uns heute schon mal für die zweiten fünf Jahre keinen Kopf machen.“ – „Aha, aha, ich verstehe! Das ist genial. Wir könnten diesen Gedanken verschärft fortsetzen: Wir nehmen uns vor, den Umsatz alle zweieinhalb Jahre dann nicht zu verzweifachen, sondern nur zu vereinfachen…oder so…nein, oder plus 50 Prozent?“ – „Ja, wenn wir alle zweieinhalb Jahre 50 Prozent zulegen, dann gibt es das Vierfache in zehn Jahren.“ – „Ja, und es ist einfach zu verstehen. Auch für Mitarbeiter! Mich stört nur, dass es zweieinhalb Jahre sein sollen. So einen komischen Zeithorizont hat ja keiner. Ich habe nichts gegen Neues, aber das sieht lächerlich neu aus.“ – „Wir legen jedes Jahr um ein Fünftel zu. Zehnmal ein Fünftel ist Zwei, dann ist es aber in zehn Jahren nur zweifach? Uih und 20 Prozent Umsatzwachstum ist sehr schwer zu schaffen. Ich glaube aber, ich habe mich schwach verrechnet. Kann das einer verstehen?“

Schweigen, sie starren alle auf den Controller. Der tippt auf dem Taschenrechner.
„Moment noch – jetzt. Die zehnte Wurzel aus Vier ist 1,148698. Also müssen wir jedes Jahr um 15 Prozent wachsen, dann vervierfacht sich der Umsatz in zehn Jahren.“ – „Und was hat das mit einer Wurzel zu tun? Und wie kommen Sie auf 15, wenn der Taschenrechner so eine krumme Zahl ergibt. Geht es nicht auch einfach?“ – „Ich habe doch nur gerundet. Beim Wachsen müssen Sie Zinseszinsen beachten.“ – Wieso Zinsen? Es geht doch um Umsatz?“ – „Es ist mathematisch dasselbe. Wenn Sie 1 Euro für zehn Jahre auf die Bank zu 14,8698 Zinsen legen, bekommen Sie vier Euro heraus.“

Mathematisch verunsichertes Schweigen.
Zaghaft einer von hinten: „Und wenn wir nicht Jahre nehmen, sondern Monate?“
Controller: „Dann sind es 120 Monate in zehn Jahren. Ich berechne jetzt die 120ste Wurzel aus Vier. Moment. Uiiih, das braucht ein bisschen. So etwas habe ich noch nie berechnet. Es ist auch Neuland für mich. Ich denke ja immer sehr kurzfristig. Schwupps, da ist es. Wir müssen 120 Monate jeden Monat um 1,162 Prozent wachsen. Hmmh, da sieht ja jetzt auf einmal machbar aus, was einem bei der Sicht auf die ganzen zehn Jahre vollkommen unmöglich erscheint.“
„Ja, genau. Ich möchte vorschlagen, statt des intergalaktischen Vervierfachungsziels dieses Monatsziel zu nehmen. Wir denken nicht so großartig in Zeitaltern, das haben wir nie getan. Wir setzen diese ganze neumodische Nachhaltigkeit um, indem wir ab jetzt 120 Monate immer dasselbe tun, nämlich um dieses eine Prozent oder meinetwegen auch zwei Prozent zu wachsen. Es kommt ja nicht so genau darauf an. Bei einer so kleinen Zahl ist die Umsetzung viel einfacher. Wir sagen den Mitarbeitern wie immer, sie sollen ab jetzt jeden Monat einen Schnaps drauflegen. Das ist drin. Damit ist das Umsetzungsproblem der Nachhaltigkeitsstrategie gelöst. Ein langer Weg besteht aus vielen Schritten, hat meine Großmutter immer gesagt. Und das verkaufen uns die Berater als neueste Weisheit.“
Breite Zustimmung. „Das mit dem Schnaps sagt aber keiner so, ich glaube, es muss mit dem Wort Extrameile ausgedrückt werden. Ich will hier nichts mit Alkohol hören, wir haben genug Probleme damit.“ – „Wieso? In Süddeutschland darf man das sagen. Sie sind für das Wording auch nicht zuständig. Das ist nicht Ihr Bier, mein Herr.“ – „Schon wieder Alkohol! Ich möchte zu Protokoll…“ – „Ich unterbreche! Ich bin der Vorsitzende! Das Meeting ist doch so erfolgreich! Stopp! Nun gießen Sie mal kein Wasser in den Wei…, äh, oops.“

Das Meeting beginnt. Alle Probleme kommen jetzt nachhaltig zur Sprache.

Gunter Dueck

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