Digitale Abwesenheit („Nur ein Meeting, bitte!“) (Daily Dueck 121, August 2010)

Während vieler Meetings grassiert heute die scheinbare Unsitte, E-Mails zu bearbeiten oder zu twittern. Ein am Tisch gesenkter Kopf deutet fast sicher auf ein unter der Tischplatte verdeckt gehaltenes iPhone hin! Oder es ist ein Blackberry, beidhändig zum Tippen bereit. In der Schule schauten wir den Vögeln oder draußen geworfenen Schneebällen nach. Wir waren mit der Seele nicht im Unterricht. Die Lehrer bestraften uns hart. Heute wütet der Chef, der sich über die digitale Abwesenheit ärgert.

In heutigen Meetings wird kaum noch etwas besprochen. Das liegt am Shareholder-Value. Meetings dienen fast nur noch dem Verfolgen von Zahlen. Alle „tracken“, wie das ständige Wiegen der Schweine genannt wird, die durch eben dieses Wiegen Fett ansetzen sollen. Diese Meetings haben einen streng seriellen Verlauf. Dieser wurde ursprünglich von meinem sehr harten Latein-Lehrer in den 60er Jahren erfunden. Er fragte zu Beginn der Stunde immer in derselben Reihenfolge Vokabeln ab, um sich jedes Mal in der gleichen Weise über unseren unsäglichen Wissensnotstand zu ärgern. Jeweils ein Schüler war wirklich dran und wurde hochnotpeinlich durchleuchtet, die anderen wussten, dass sie irgendwann dran sein würden und gruselten sich. Die aber, die bereits ausgeschimpft waren, saßen überaus glücklich und ganz entspannt da, weil sie nichts mehr zu befürchten hatten. Nach und nach wurden alle ausgeschimpft und damit glücklich. Die jeweils noch nicht Ausgeschimpften wurden auch glücklich, weil die zuerst verbal Geprügelten so irre schlecht waren, dass sie ganz sicher nicht schlechter sein würden als diese. Das regte unseren Lehrer sehr auf. Oft stoppte er das Abfragen verzweifelt ab, weil es ja nur am Anfang spannend ist, wenn sich noch fast alle gruseln.

Nach diesem Lateinvokabelabfrageritual wurden in den folgenden Jahrzehnten alle offiziellen Meetings durchstrukturiert. Immer einer ist „dran“, den Status zu berichten. Die anderen beruhigen ihre Nerven oder waren schon dran – sie langweilen sich jetzt oder haben einen Hang zur Schadenfreude. Im Grunde sind immer nur die aufmerksam, die noch etwas im Meeting zu gewinnen haben. Das sind nur wenige. Das finden eben diese Wenigen ganz gut, sie wollen aber natürlich, dass die anderen trotzdem aufmerksam sind, damit sie selbst bewundert werden können und sich die anderen ein Beispiel an ihnen nehmen sollen. Insbesondere der Chef, der hohe Zahlen erfragen möchte (= Vokabel-Lernertrag), will Aufmerksamkeit und scharf gefühlte Besorgnis um den meist elenden Gegenwartszustand.
Aber die lustvoll oder träumerisch Unaufmerksamen von früher gibt es nicht mehr. Sie arbeiten heute während der Meetings an E-Mails, tippen SMSe oder twittern, sie unterhalten sich mit anderen über Instant Messaging. Manche lernen schon Lippenlesen und skypen dann lautlos! Für die meisten ist ein Meeting heute wie eine normale Bürostunde. Der einzige Unterschied ist, dass bei normalem Arbeiten der Chef stört, weil er misstrauisch darüber wacht, dass man stark arbeitet. Bei Meetings will er, dass man gar nicht nebenbei arbeitet! Das ist anders und wieder auch nicht. Es ist in jedem Falle negativer Stress.
Die Möglichkeit digitaler Zweitbeschäftigung ist genial! Früher machten wir schon Abgefragten während des Ausschimpfens noch schnell die Hausaufgaben für die nächste Stunde. Das war mühevoll unter dem Tisch! Ach, hätte es damals schon iPads gegeben!
Und immer brüllt ein Chef: „Nur EIN Meeting bitte!“ und alle anderen rufen „Wir haben zu viel zu tun, wir müssen die unnütze Zeit im Meeting unbedingt nutzen!“

Ich war gerade weit weg im Urlaub, und ich hatte keine Meetings. Wir hatten tonnenvoll Zeit und aalten in der Sonne. Am Abend mixten wir Älteren uns Cocktails. In der zweiten Woche war uns das etwas langweilig. Da zog jemand ein Kartenspiel hervor, in dem man zehn verschiedene Aufgaben in vielen Runden erfüllen muss. Meistens gewinnt einer, der die zehn Aufgaben in vielleicht 20 Runden zuerst schafft. Das Spiel dauert zwei bis drei Stunden und macht richtig Spaß! Es stört nur ein bisschen, dass diejenigen, die erst drei Aufgaben bewältigten, emotional matt werden gegenüber denen, die schon mit acht Erledigungen triumphierten. Bei Losern lässt die Aufmerksamkeit merklich nach. Nur die Wenigen sind beim Spiel Feuer und Flamme, die etwas zu gewinnen haben! Das erkannte ich plötzlich, weil einige von uns unter dem Tisch mit dem SMS-Tippen anfingen, bei Facebook surften oder ständig vom Tisch aufstanden, um sich zu erleichtern, Chips zu holen oder das Fernsehprogramm zu studieren. Das kleine Kind musste bei Laune gehalten werden, jeder der Verlierer war glücklich, sich damit ablenken zu können. Einige lasen Zeitung. „Hey, du bist dran! Hey! Wir spielen jetzt! Wir lesen nicht Bücher! Verdammt! Toilettengänge nur beim Kartenmischen!“ So redeten die, die noch gewinnen wollten. Die anderen kamen auch dran („Was muss ich eigentlich tun?“), dachten ungehörig lange nach, weil sie mental aus dem Spiel waren und gestalteten alles noch langweiliger. „Wir spielen! Verdammt! Bitte nur ein Spiel!“ – „Warum hast du es eilig?“ – „Die Kinder müssen ins Bett, es muss schnell gehen!“ – „Dann hören wir eben mittendrin auf, ich verliere sowieso.“ – „Ich aber nicht, ich will nämlich gewinnen!“ – „Aber es geht nur, wenn ich verliere! Du brauchst mich dazu! Witzig, was?“

Und mich gruselte es. Mitten im lustigen Spiel ist das Leben wie ein Meeting! Und die jungen Leute haben alle ein iXYZ und einen Facebook-Account oder ein neues Handy-Spiel, die alle für sich jede noch so große Zeitmenge mühelos fressen. Zu jeder Zeit gibt es noch Schöneres als Spiel oder Schöneres als das nicht-digitale Leben. Wir haben jetzt zwei Parallelleben. Oder drei? Vier? Wir zappen beim Spiel und während der Arbeit zwischen den verschiedenen Leben.
Ich selbst kann das noch nicht so wirklich, ich nähere mich dem unflexiblen Alter. Aber das Leben der Digital Natives muss doch wundervoll sein! Die Verkäuferinnen im Shop hören schon Musik aus dem Knopf, die Gepäckfilzer im Flughafen telefonieren mit Luxushandys, Kids wandern mit blau flackernden Displays bei Sonnenuntergang am Strand. Wer gerade nicht wirklich am Ohr gezogen dran ist, ist irgendwo digital abwesend! So lässt sich das Leben ertragen! Oder vermeiden! Oder wenigstens zerstreuen!
Digital, sei bei uns. Es leben anscheinend gerade nur noch die richtig, die gerade etwas zu gewinnen haben.

Gunter Dueck

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