Lesen ist unsozial! (Daily Dueck 12)

„Das Große Einmaleins der Ungerechtigkeit.“ So lautete der Titel eines Handelsblattartikels vom 21.11.2005 (Seite 11). Kinder reicher Deutscher wissen mehr! Ungerecht! Ich las weiter – und mich riss es fast vom Stuhl. Ich wurde wütend und hatte niemanden, den ich hauen konnte. Ohnmacht.

Sie haben es bestimmt schon hundert Mal gelesen: In Deutschland entscheidet die soziale Herkunft stärker als in anderen Ländern über den Erfolg eines Kindes in der Schule. Das deutsche System wird als Schandfleck bezeichnet, weil es Arbeiterkinder benachteiligt. Nur in England, Schottland und Ungarn geht es noch ungerechter zu! Pfui über uns!

Na gut, ich habe den Artikel noch einmal gelesen. Die Artikel im Handelsblatt über neuere wissenschaftliche Ergebnisse sind richtig gut geschrieben. (Kolumne: „Wissenswert“). Und dann fand ich einen Absatz, der mich alarmiert hat. Ich zitiere:

„Als Indikator für den familiären Hintergrund der Schüler nutzen die Wissenschaftler eine auch unter Soziologen gängige Größe: die Zahl der Bücher im Elternhaus. Denn diese hängt in aller Regel eng mit dem Bildungsniveau und Einkommen zusammen. Zudem können viele Kinder die Frage, wie viele Bücherregale es zu Hause gibt, einfacher beantworten als die, was Papa und Mama für einen Bil-dungsabschluss haben oder an Gehalt nach Hause bringen. Die Auswertung zeigt: Ein deutsches Kind, dessen Eltern nur ein Regal voller Bücher haben, schneidet deutlich schlechter ab als eines, bei wel-chem zu Hause doppelt so viel Literatur vorhanden ist.“ Viele Bücher im Haus – so wird dann festgestellt, geben ein gutes Schuljahr Vorsprung in Schulkenntnissen.

Dämmert es Ihnen auch? Es ist echt schwierig für Wissenschaftler, eine gute Statistik zu erstellen, weil sie ja nicht wissen, welche Deutschen reich sind oder nicht. Es ist viel Arbeit, das herauszufinden! Das wollen sie sich lieber nicht antun und nutzen hilfsweise einen so genannten Indikator, der sich leicht messen lässt: „Habt ihr ein oder zwei Bücherregale zu Hause?“ Da antworten alle Kinder, deren Eltern im Buchclub bei Bertelsmann oder in der Büchergilde Gutenberg sind, mit „Ja.“ Dann wissen die Wissenschaftler, dass die Eltern dieses Kindes total reich sind.
So also kommen die Ergebnisse zustande, mit denen hinterher ganz Deutschland verprügelt wird. Nüchtern gesehen haben die Wissenschaftler eigentlich nur festgestellt, dass Leute, die Bücher im Hause haben, den Kindern damit eine gute Infrastruktur für ihre zukünftige Bildung zur Verfügung stellen. Wahrscheinlich finden dieselben Wissenschaftler noch zusätzlich heraus, dass bei Kindern das Lesen von Büchern zu einem Bildungsvorsprung führt. Solche Studien gab es neulich auch. Dort sag-ten die Wissenschaftler:

„Kinder! Lest! Eltern! Schleppt Bücher herbei! Lesen ist gut!”

In dieser Studie aber, für die locker Lesen = Reichtum gesetzt wird, wird geschlossen:

„Lesen ist unsozial! Wenn einige lesen, aber andere nicht – dann wird alles ungerecht! Bertelsmann, Büchergilde und Weltbild verzerren Deutschland!“ Ich glaube, in Frankreich gibt es nicht so richtige Buchclubs. Deshalb gibt es nicht so viele (Bücherregal-) reiche Leute dort und alles ist statistisch gesehen viel gerechter? Und Engländer und Ungarn lesen vielleicht auch nur viel? Oder liegt es daran, dass es viel mehr verschiedene Buchtitel in Englisch und Deutsch gibt und die Ungarn viel in Deutsch und Englisch lesen, weil sich Buchübersetzungen in ungarisch nicht lohnen? Dann wäre nach dieser Studie in Ungarn reich, wer deutsch und/oder englisch kann? Ach, Statistik. Ich fürchte, hier wird etwas ganz Furchtbares über das Land der Dichter und Denker geschlossen. Eigentlich gibt die Studie nur her, dass Gebildete gebildeter sind als Ungebildete, oder? Das ist eine interessante Erkenntnis. Wer sich bildet, erzielt einen Vorsprung und erzeugt Ungerechtigkeit. Noch einmal Pfui! Alle Kinder sollen ganz genau gleich sein und dann aber, beim Abitur, am besten gleich alle die Besten, damit sie beim gnadenlosen Kampf um die paar verbliebenen menschenwürdigen Arbeitstellen die Wettbewerber vernichtend besiegen können! Gemein sind die, die Bücher besitzen! Leute, lest alle!

Oh weh, jetzt poltere ich schon wieder. Ich schau lieber schnell im Internet nach, wie viele Billy-Regale von IKEA die Leute im Haus haben. Unterscheiden Wissenschaftler zwischen breiten, schmalen und hohen Billy-Regalen? Ist Kiefer reicher als Birke?
Hier ist etwas!

“Finally, per capita spending on books in 1999 ranged from 25 to 120 euros in the different European countries (source: The Economist, Pocket Europe in Figures, Facts and figures about 48 countries that make up Europe today, 5th edition, London, 2001).”
(in Deutsch: in Europas Ländern liegen die Pro-Kopf-Ausgaben für Bücher zwischen 25 Euro und 120 Euro.)

Und da, das Statistische Bundesamt von 2003:
„Haushalte mit weniger als 900 Euro Monatsnettoeinkommen geben der Statistik zufolge im Bundes-durchschnitt 5 Euro für Bücher aus. Bei Haushalten mit Einkommen zwischen 2.000 und 2.600 Euro monatlich sind es 11 Euro. Haushalte mit einem Nettoeinkommen ab 5.000 Euro verwenden 25 Euro im Monat für den Bücherkauf. Nahezu doppelt so viel wie der Durchschnittshaushalt wendeten Beamtenhaushalte für den Kauf von Büchern auf. Im ersten Halbjahr 2003 waren es 23 Euro im Monat. Ihnen am nächsten kamen Haushalte von Selbstständigen mit 21 Euro im Monat. Am niedrigsten wa-ren die Werte bei Haushalten von Arbeitern und Rentnern mit je 9 Euro im Monat sowie bei Arbeits-losenhaushalten mit 7 Euro monatlich.”

Beide Quellen zusammen sagen, dass in Deutschland wohl mit am meisten für Bücher ausgegeben wird. 120 Euro im Jahr oder mehr. Reiche Leute mit mehr als 5000 Euro Einkommen geben doppelt so viel für Bücher aus wie Arbeiter. Stimmt! Ich würde aber vermuten, die Arbeiter kaufen eher Taschenbücher und die Reichen gebundene Ausgaben? Sagt das also etwas über die Anzahl der Bücherregale aus? Ist der Unterschied nicht ziemlich klein, mit zwei zu eins? Warum kaufen Beamtenhaushalte so viele Bücher? Wollen sie mehr Bildung? (Sie werden denken: „Die haben Zeit.“ Lassen Sie das. Ich tippe, dass Beamte mehr in Buchclubs sind und deshalb wieder in der besagten Studie mit Reichen verwechselt werden.).

Fragen über Fragen. Ich will damit nur sagen: Wenn die Studien nicht saubere Daten erheben und wirklich Reiche untersuchen, nicht aber Leute in Buchclubs oder Ebay-Steigerer, dann ist das Ganze, was herauskommt, irre fragwürdig. Ich will hier sagen, dass ich das sehr fragwürdig finde. Ich will nicht behaupten, dass die Studie falsch ist, da müsste ich mich genau einarbeiten. Sie erscheint mir fragwürdig, des Nachfragens würdig.
Wenn die Bücherverteilung in Deutschland nur um zehn oder zwanzig Prozent von der Reichtumsverteilung anders als in anderen Ländern abhängt, dann schließen wir ganz unsinnige Dinge daraus und reformieren wieder einmal unser Bildungssystem genau so unsinnig.

Die Moral von der Geschichte: Liebe Welt, nimm doch wenigstens echte Messwerte – nicht leicht erzielbare Indikatoren aus Kindermund. Selbst mit Messwerten sind Statistiken noch problematisch genug.

Gunter Dueck

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