Polemik gegen den Hass auf „Jeder kann und soll studieren!“ (Daily Dueck 119, Juli 2010)

Neulich habe ich unter dem Titel „Hirn verpflichtet“ einen neuen Aufbruch in eine Wissensgesellschaft gefordert. Das gab ein vollkommen gewohntes Echo, das ich bei meinen Reden auf Bildungskongressen schon hinlänglich gewohnt bin. „Wer soll dann noch arbeiten, wenn alle ein Diplom haben?“ heißt es ebenso oft wie „Sind nicht ziemlich viele einfach zu blöd dafür?“ oder „Was wollen Sie denn mit dem ganzen Sozialsumpf machen?“ oder „Es gibt eine statische Glockenkurve über Intelligenz, wissen Sie das nicht?“ Mir bleibt bei realen Konfrontationen oft die Entgegnung im Hals stecken. Ich versuche es einmal hier in Ruhe. Ein Ruf an die, die gegen Hirnverpflichtungen sind:

Jeder KANN studieren: Laut Statistik bestehen fast alle Kinder das Abitur, deren Eltern eines haben. Wenn man sich also um ein Kind kümmert, wird was draus. Heute aber finden Eltern, die Schule soll sich kümmern, nicht sie. Die Schule aber geht bei der Gestaltung des Lehrplanes davon aus, dass die Persönlichkeitsentwicklung Sache der Eltern ist und nimmt implizit an, dass die Schüler als brennend interessierte fertige Persönlichkeiten angeliefert werden, die nach jedem gebotenen Wissen lechzen. Der Schulstoff dient dabei nicht dem Leben, sondern der Vorbereitung auf ein Studium, was ihn in der Tendenz uninteressant und trocken macht. Es ist z.B. ein Unterschied, ob man als Zwölfjähriger Anglistik studieren will oder nur Amerikanisch reden möchte. Oder: Mathematik hilft zu analysieren, zu urteilen und zu entscheiden. Aber dieser Aspekt kommt in der Schule nicht vor. Das Leben an sich und das Interesse der Schüler sind unwichtig wie es heute die Kunden sind. „Kunden verstehen die Produkte nicht und sind deshalb nicht ernst zu nehmen.“

Digital Natives lernen anders als Opa: DN’s gehen nie mehr in die Bibliothek, warum auch? Sie lernen Erdkunde über Google Earth und spielen Geo Challenge bei Facebook. Neue Sprachkurse von Rosetta Stone brechen mit allen Schultraditionen und haben sagenhaften Erfolg. Auf Computern kann man komponieren und dazu singen, Musik ist dann nicht mehr nur Reproduktion und Verstehen, sondern eigenes Werk. Langweilige Lehrfilme? YouTube hat alles. Ich behaupte: Bildung per iPad wird begeistern und bringt locker das bisschen Abitur in den Kopf. Das Problem ist: Wenn ich das Problem der optimalen Wissensvermittlung gelöst hätte – wie verändere ich dann das Bildungssystem? Das braucht schon immer Jahrzehnte, etwa um Mengenlehre einzuführen und wieder abzuschaffen – sogar ohne Anhörung von Betroffenen.

Normale Intelligenz reicht: Wenn zum Kümmern noch das Interesse der Digital Natives hinzukäme, was die Lehrer und Eltern ja nur voraussetzen, schlicht befehlen, mindestens aber unentwegt als Notwendigkeit appellativ beschwören, dann muss es doch für jeden reichen! Lehrer interessierten sich z.B. lange kaum für das Internet! Dieselben also, die Offenheit und Interesse für alle voraussetzen, die später einen guten Beruf ausüben wollen. Die Armen klagen, ohne Hilfe zu sein. Die Besseren finden, die da unten hätten nicht genug Intelligenz oder zu kaputte Lebensläufe. Ich höre oft: „Die haben nicht genug im Kopf. Nicht jeder kann Abitur machen.“ Dieselben, die das sagen, fördern ganz sicher ihre eigenen Kinder zum Abitur, für die reicht es sowieso – ohne jedes Überlegen. Ist die Haltung, an der Intelligenz anderer zu zweifeln, etwa freudiges Elitebewusstsein, im Vorteil zu sein? „Meine Kinder? Ja, klar! Alle anderen auch? Geht doch nicht.“

Seelische Gesundheit lässt alles gelingen: Im Beruf scheitern die, die man erniedrigte, oder die, die trotz ehrgeizigster Bemühungen frustriert sehen, dass sie ihre eigenen zu hohen Erwartungen nicht erfüllen. Sehen Sie sich doch um! Bei der Arbeit! Warum scheitern viele? Das, was Sie teuflischen Stress nennen und was Ihnen selbst den Tag versauert und das Leben versaut, das haben Ihre Kinder doch auch. Und sie scheitern wegen öffentlicher Bloßstellung oder weil sie den häuslichen Erwartungen nicht entsprechen. „Note?“ – „Zwei minus.“ – „Wie war der Durchschnitt?“ – „Zwei.“ – „Dann bist du schlecht.“ Hey, Zwei minus bedeutet unrelativiert absolut, dass man es ganz gut verstanden hat. Punkt. Ist nicht schlecht. Wie reagieren Sie denn, wenn heute Ihr Chef sagt: „Sie sind okay, aber die meisten waren im letzten Monat einen Wimpernschlag besser. Das wollte ich nur kurz sagen. Nehmen Sie sich das zu Herzen.“ Bei fast allen, die ich kenne, ist die Woche gelaufen. Bei Schülern ist es aber normal, dauernd bewertet zu werden. Das Übel liegt nicht im Bewerten an sich – jeder möchte ja ein faires Urteil über die eigene Arbeit. Nur verglichen werden wollen die meisten nicht, weil sich das reine Urteil mit Wertung vermischt. Vergleichen, natürlich um positiv verglichen zu werden, wollen nur die Besten – und die sind die späteren Burnout Kandidaten, die nach dem Peter-Prinzip Liga für Liga aufsteigen, bis sie lebenslang im Abstiegskampf festsitzen. Ich wiederhole also immer wieder: Unter negativ empfundenen Stress verdirbt alles. Anstatt das zu ändern, predigen Manager und Lehrer, dass es jeder selbst in der Hand habe, jeden Stress positiv als Challenge zu sehen. Man muss, so höre ich oft, nicht die Realität ändern, sondern nur die Einstellung zu ihr positiv ändern. „Wir sind Note Vier?“ – „Das lässt mich verzweifeln!“ – „Aber die meisten anderen Firmen sind Vier minus! Dann sind wir doch gut!“ – „Aber es gibt welche, die Zwei sind.“ – „Das sind einzelne schwarze Schafe, die kein Maßstab für uns sind. Vier ist Stress pur, aber freuen Sie sich, dass wir nicht Vier minus sind.“
Ich bitte Sie: Im Kern geht es darum, dass wir und unsere Kinder (was fast dasselbe ist) seelisch gesund sind.

Bildung ist Vorfreude auf sich selbst (Sloterdijk): Warum haben denn alle Angst vor der Aussicht, gebildet zu sein? Ist das nicht schön? War es nicht früher eine Auszeichnung, als begabter Bauernbub aus fürstlicher Gnade doch auf die Klosterschule zu dürfen? Wovor haben Sie Angst? Ich komme immer wieder mit diesem Beispiel: Wenn Sie heute im Urwald ein unentdecktes Urvolk finden und sagen: „In zehn Jahren muss hier jeder das Rechnen, Lesen und Schreiben beherrschen.“ Dann werden die Urindianer alle erwidern: „Erstens müssen wir alle jagen und haben keine Zeit. Zweitens sind wir nicht klug genug dafür, der IQ reicht nicht. Drittens braucht das beim Jagen keiner.“
Schauen Sie einmal in den Artikel „Schulpflicht“ bei Wikipedia. Ich zitiere:
„In den katholisch gebliebenen Landesteilen Deutschlands verlief die Durchsetzung dieser Forderungen äußerst zäh. So wurde in Bayern erst 1802 (sechsjährige Unterrichtspflicht) ein entsprechendes Gesetz erlassen. Aber auch im evangelischen Sachsen begann erst 1835 mit dem Volksschulgesetz die achtjährige Schulpflicht. Besonders in der Landbevölkerung stieß die Schulpflicht zunächst auf Widerstand. Die in kleinbäuerlichen Betrieben notwendige Arbeitskraft der Kinder wurde erheblich wichtiger als deren Schulbildung angesehen. So kam es z. B. in der Eifel, nachdem diese 1815 preußisch wurde, in den beiden folgenden Jahrzehnten mehrmals zu heftigen Protesten der Landbevölkerung gegen den Schulbesuch der Kinder.“
Was also haben Bauern gesagt? „Erstens müssen wir alle ackern. Zweitens sind wir nicht klug genug. Drittens braucht es keiner zum Ackern.“
Jetzt gehen wir in die Wissensgesellschaft. Ich will, dass Sie mitkommen. Und Sie sagen: „Erstens haben wir alle Büroüberstunden. Zweitens können wir mit Computern nicht umgehen. Drittens braucht man das in unserem Job auch nicht.“

Sie denken bei Zukunftsmethoden an die Welt von heute: Die Urwaldindianer hatten Recht, Rechnen hilft nicht beim Jagen. Die Bauern hatten Recht, Lateinschule hilft nicht beim Ackern. Sie haben heute Recht, das Studium hilft nicht beim Taxifahren. Aber wir alle, die wir Bildung erwarben, bekommen wieder gebildete Kinder – und die Prosperität der Gesellschaft steigt. Sie denken leider kein bisschen an Ihre Kinder, nur an „Was wird aus mir? Nützt es mir jetzt?“
Nach dem urzeitlichen Jagen, nach dem einstmaligen Ackern, nach dem heutigen Bürositzen kommt eine neue Zeit! Wollen wir immer wieder dieses alte Spiel spielen? „Keine Zeit, kein Können, keinen Nutzen!“ Und gleichzeitig den Kindern sagen: „Aus dir soll mal was Besseres werden. Tu mit Interesse, worauf ich nie Bock hatte.“

AUFBRECHEN!

Gunter Dueck

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