Mit Reethisierung und Wertediät aus dem Effizienzsumpf (Daily Dueck 118, Juni 2010)

Weisheit rät, in der Mitte des Weges zu gehen. Tao. Effizienz aber optimiert die Ressourcen so stark, wie es nicht weiter geht – also bis an eine Grenze. Effizient ist etwas dann, wenn mindestens eine der Ressourcen komplett aufgebraucht ist. Dann kann der Gewinn zum Beispiel nicht mehr gesteigert werden, weil Leute fehlen oder kein Kredit mehr aufgenommen werden kann. Im Zustand der Effizienz ist irgendwo kein Spielraum mehr. Das Maß ist verloren, die Mitte verlassen. Der Zustand der Effizienz ist einer voller Risiken. Oder einer kurz vor dem Sumpf.

Wenn Kredite fehlen, werden neue aufgenommen. Wenn Menschen gebraucht werden, stellt man sie ein. Schlauer oder gerissener erscheint es, zur Steigerung des Gewinns die Rechnungen absichtlich später zu bezahlen, Lieferanten hängen zu lassen und die Mitarbeiter zu unbezahlten Überstunden zu überreden. Wenn Bleistifte fehlen, kauft sie schon einer privat. Wir sehen, dass die Gewinnmaximierung nicht einfach nur ein rein mathematisches Problem ist. Ein Computer, der den Aktienkurs optimieren müsste, würde Leute einstellen, wenn welche gebraucht würden, weil er darauf programmiert ist, die Arbeitszeiten und Tarife zu beachten. Er ist leider nicht kreativ! Er steuert alles nach den Bedingungen, die wir ihm eingeben. Computer überwachen zum Beispiel die Sicherheit von Bohrlöchern oder Tankschiffen. Diese Sicherheitsspielräume müssten Menschen gegen den Willen des Computers kreativ abschalten, sonst halten sich Computer an Regeln. In der Praxis lässt man Computer deshalb weiterhin optimieren, aber so, dass immer ein paar rote Lampen in der Alarmanlage blinken („Ist noch nie etwas passiert. Alle überkandidelte Warnlampen.“).
Diese Aufweichung akzeptieren wir zu Gunsten einer ausgeweiteten „Effizienz“. Wir behandeln die Grenzen, die wir eigentlich haben, als sich immer weiter ausdehnende Grauzonen. In diesen Grauzonen liegt das Erlaubte schon lange hinter uns. Der eigentliche Spielraum ist hier schon negativ, aber wir erlauben uns immer mehr „Interpretationsspielraum“. Wie lange kann man Kunden verärgern? (Es gibt gerade sehr eindrucksvolle Werbung mit einer Hotline für Kundenbeschwerden. Man wirbt damit, Kundenbeschwerden sofort anzuhören! „Kann schon sein, dass mal das Internet einen Monat nicht funktioniert, aber bei Ärger darf man mit einem bildschönen Avatar telefonieren!“) Wann laufen die Mitarbeiter davon? Wie erkenne ich, dass jemand einen Burnout bekommt, damit schon vorher Ersatz besorgt werden kann? Fangen Mitarbeiter unter Stress an, schlecht zu arbeiten? Wie lange bleiben Lieferanten bei der Stange? Wie lange liefern sie akzeptable Qualität? Werden Termine wenigstens ungefähr eingehalten? Zusagen? Versprechen? Neulich erfreute mich ein Mitarbeiter der Bahn mit der denkwürdigen und vollkommen gutgelaunten Ansage: „Wir verabschieden uns von unseren Fahrgästen, die in Mannheim aussteigen, sagen Auf Wiedersehen – und wie immer entschuldigen wir uns für die entstandene Verspätung!“ WIE IMMMER! Nach den Grenzen sind auch die Schamgrenzen gefallen. Ist der Ruf erst ruiniert, entschuldigt es sich ungeniert.

An jeder Stelle sind die Spielräume erschöpft. Jede Regierung klagt, sie habe „keinen Handlungsspielraum“ mehr. Nicht mal ein Wahlversprechen ist mehr drin, weil der Glaubwürdigkeitskredit längst im schwarzen Loch verschwand – die Grauzone ist irgendwann verlassen worden. Es gibt keinen Spielraum für Löhne, für Betreibsfeiern, für Zeit zum Reden, für Beratung beim Arzt. Wir sind schon weit weg von der geraden Mitte des Weges.

Nun häufen sich die Grauzonenunglücke.
Konsumenten steigen die Kredite über die Ohren, Öl quillt aus der ungesicherten Erde. Unterfinanzierte fettfreie Unternehmen klagen laut über die Kreditklemme. Straßen sind löchrig wie am Ende der 40er Jahre. U-Bahnen werden weitgehend stützungsfrei gebaut. Menschen haben kein scharfes Gewissen mehr, es ist eine graue Zone wie alles geworden. Nicht einmal die richtige Richtung zum Guten ist mehr klar, weil wir im Grauen das Helle nicht mehr orten (Die Liberalen zum Beispiel versprechen den Wählern im schnellen Wechsel Steuerentlastungen und -erhöhungen, wahrscheinlich um damit erstmals wirklich allen Wählern attraktiv zu erscheinen).

Nun wachen wir langsam auf und merken, dass sich unsere Existenz grenzwertig verschlechtert. Wir stellen fest, dass es keine Grenzen und Regeln mehr gibt, sondern nur noch stark interpretierte „Praxis“. Wir sehen, dass wir wieder Regeln brauchen, die aber Momos grauen Herren sofort als „Regulierungen“ erscheinen und heftig abgelehnt werden.
Wer jetzt „wieder Regeln einführen will“, stellt fest, dass das in den meisten Fällen kompletter Unsinn ist. Denn die Regeln gibt es ja. Man hat sich eben nicht daran gehalten. „Die geltenden Bestimmungen reichen vollkommen aus, es muss nur deren Einhaltung kontrolliert werden.“ Mitarbeiter dürfen zum Beispiel nur 10 Stunden am Tag arbeiten und höchstens 48 Stunden die Woche – und die Ruhepausen müssen in aller Regel im Voraus feststehen. Es geht nicht beliebig: „Bleiben Sie heute mal länger da.“

Stellen Sie sich vor, es würde ein Ruck durch uns gehen und wir würden ALLE Regeln wieder ab jetzt sofort gewissenhaft einhalten. Was passiert dann?
In Amerika dürfen die Banken ihre faulen Kredite länger abschreiben als es normale Regeln erlauben würden. Sonst wären die Banken nämlich ganz offiziell pleite und nicht nur de facto. Daran sehen wir, dass wir uns soweit in die Grauzonen der Effizienz verloren haben, dass wir nicht plötzlich auf einmal wieder brav sein können. Denn dann bräche das System zusammen.
Der Staat muss weiter Schulden machen, sonst bricht er zusammen. Die Ölbohrungen müssen riskant weitergehen, weil sonst das Öl zu teuer wird. Die Banken dürfen (sie sind ja das Vertrauenswürdigste überhaupt, sie sind eine sichere Bank!) die Bilanzen weiter grau halten, weil der Weg zur weißen Weste zu weit ist.

Wir stellen fest: Ein Wandel zum Guten ist in einem einzigen Sprung nicht möglich.
Wir müssen eine Reethisierungphase von vielen Jahren planen und eisern durchhalten. Wir sitzen nämlich zu tief im Morast. In Griechenland ist man von der Vorstellung einer sofortigen Herstellung des Normalen absolut schockiert gewesen! Das langsame Versinken ist nämlich angenehmer als das haarschmerzende Herausziehen.

Können wir eine so lange Reethisierung durchhalten? So etwas wie eiserne Wertediät halten und langsam über die Jahre ehrlicher und ethischer werden? Müssen wir nicht unsere Wertegewohnheiten grundlegend umstellen, bis wir nach und nach wieder zu einem vollwertigen Leben zurückkehren?

Oder sind wir auch schon zu weit gesunken? Dann würden wir uns vor dem Guten schrecklich fürchten, wie Trinker vor der Trockenheit oder Kokainsüchtige vor der Realität.

Gunter Dueck

© 2005 Gunter Dueck l design: nukke.de (ad+bvp)