Hirn verpflichtet (Daliy Dueck 117, Juni 2010)

Normalerweise kennen wir nur die Formel „Eigentum verpflichtet“, womit wohl gemeint sein könnte, dass Menschen, die ziemlich viel von etwas besitzen – also mehr, als sie persönlich brauchen –, ein gediegenes Maß von dem Überschüssigen anderen zur Verfügung stellen oder dem Gemeinwohl widmen. Aber schauen wir uns einen großen Bauernhof an, den der Besitzer einfach brach liegen und verkommen lässt. Disteln sprießen, überall blüht Löwenzahn. Solch ein Niedergang würde uns verstören. Ist man nicht auch verpflichtet, sein Eigentum gedeihen zu lassen? Wie aber steht es dann mit unseren Talenten, Fähigkeiten und Begabungen?

Es gibt sehr wenige, die ein großes Mietshaus besitzen und daran nichts mehr tun, bis es verrottet, nicht mehr bewohnbar ist und verfällt. Manchmal ist das zu Spekulationszwecken, aus Rache an Miterben oder bei versicherungstechnischen Überlegungen „sinnvoll“. Wenn aber einfach so ein Verfall sehenden Auges hingenommen wird, empört sich etwas in uns. Es ist unerträglich, wenn etwas durch überdrüssiges Nichtstun ruiniert wird, was ohne großen Aufwand blühen und Früchte tragen könnte.

Ich reise derzeit im Lande herum und verlange „Abitur für alle“ oder noch konsequenter „Alle sollen studieren“, damit Deutschland einen Platz in der kommenden Wissensgesellschaft einnehmen kann. Fast alle (weit über 80 Prozent) aller Kinder, deren Eltern Abitur haben, schaffen selbst das Abitur. Natürlich gibt es Eltern mit Abitur, die in Familienhöllen leben, die sich scheiden lassen, Familienunglücke hinnehmen müssen, an Sucht leiden oder kranke Kinder betreuen. Wenn wir alle diese statistisch berücksichtigen und von den idealistischen 100 Prozent abziehen, dann würde ich aus der Statistik dieses schließen: Wenn sich jemand liebevoll und mit dem nötigen Sachverstand und guter Bildung um ein halbwegs gesundes Kind kümmert, dann schafft es das Abitur und kann dann per definitionem (!) auch studieren.
Warum kümmern wir uns also nicht? Warum werden Kinder, deren Eltern sehr viel Zeit zu Hause haben, eher schlechter gefördert? Warum lernen die Eltern nicht gleich mit den Kindern mit und finden wieder Arbeit? Wozu bekommt man erst Kinder, wenn man sie nicht fördern will oder nicht fördern zu können glaubt? Und warum presst man Leistungsträger in unserer Gesellschaft so sehr aus, dass sie, die nur Kinder bekommen würden, die sie wirklich fördern können, aus genau diesem Grunde keine mehr wollen können?

Neben der Arm-Reich-Schere haben wir jetzt auch die, dass sich die Leistungsträger bis zum Burnout ruinieren und die anderen eine Supernanny bestellen müssen. Deutschland ist doch das Volk der Dichter und Denker! Und nun bricht das Zeitalter des Wissens an, in dem die „studierten Völker“ den meisten Wohlstand erwerben können. Wie also würde ein Top-Manager vor diesem desolaten Gewirr stehen? „Wir sind von unserer langen Unternehmenstradition her optimal aufgestellt, um an den herausragenden Zuwachsraten der kommenden rosigen Zukunft überproportional zu partizipieren. Wir werden in diesen unzweifelhaft kommenden Goldrausch tatkräftig investieren. Das tun wir dadurch, dass wir uns in der Führung sehr viel Zeit nehmen, schon jetzt an unsere Mitarbeiter dringlich zu appellieren, sich individuell bestmöglich für die kommende Wissensgesellschaft aufzustellen. Wir werden uns konsequent von Mitarbeitern trennen, die sich weigern, notwendige Voraussetzungen nicht zur Verfügung zu stellen.“ Im Klartext: Alle kennen die Richtung, aber sie möchten durch die Selbstheilungskräfte der Märkte, die gerade die Finanzkrise erzeugt haben, nun wieder einmal ohne eigenes Zutun in die Wissensgesellschaft gespült werden.

Einen Ruck brauchen wir!
Hirn verpflichtet!
Warum sehen wir der Misere zu und lassen „unser Haus unter langsamem Mietverlust verfallen“?
Wer genug Hirn hat, muss selbst die Verantwortung in sich spüren, daraus etwas zu machen. Wir müssen die Ressourcen, besonders die, auf die es jeweils ankommt, unbedingt gedeihen lassen. „Hirn verpflichtet“ sollte neben „Eigentum verpflichtet“ ins Grundgesetz (habe ich in AUFBRECHEN geschrieben und den Ruf unverbesserlicher Naivität kassiert).

Tja, aber ich sehe naiv, dass unsere ErzieherInnen leider nicht studiert haben und unterbezahlt werden, ebenso wie die Bankberater, die sich um unser Allerheiligstes kümmern. Die Pfarrer wechseln schnell wie Zeitkräfte ohne Zeit zur Vertrauensbildung und verlieren sich faktisch in Mega-Seelsorgeeinheiten durch Verdünnung. Viele Lehrer fordern die Anlieferung von abiturwilligen, an jedem vorgeschriebenen Lehrstoff hoch interessierten Schülern als Arbeitsvoraussetzung. Wir selbst raffen uns nicht genug auf. Sind wir müde?
Uns geht es so gut wie nie zuvor. Aber wir arbeiten unter Stress an Effizienz, wir verarzten schon lange betagte Plattenbauten und schrumpelnde alte Obstbäume, die noch länger Früchte alter Sorten tragen sollen, die die Käufer nicht mehr recht mögen (weshalb für vieles ein Mindestlohn oder –preis eingeführt werden muss). Wir gewinnen derzeit noch viel, aber wir gedeihen nicht mehr. Wir müssen uns um neue Saat und zarte Pflänzchen kümmern, die wieder ohne effiziente Künstlichkeiten schwere Frucht tragen. Bitte verstehen Sie das, das bitte ich Sie – ich als Teil der Gesellschaft, der Ihnen demnächst das Überalterungsproblem beschert.

Gunter Dueck

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