Links im Sinnraum
Als das Kind schrie, er sei nackt, fror der Kaiser (Daily Dueck 115, Mai 2010)
Die Spekulanten, die sich gegen das hoch verschuldete Griechenland verbünden, bereinigen angeblich den Markt. Dafür – so sagen viele – müssten wir ihnen dankbar sein. Denn nun kann Griechenland wieder zur Ordnung zurückkehren. Diese neu entstehende Ordnung sei am Ende die Folge der Spekulation. Das Problem ist, dass auch nur naiv aufgedeckte Wahrheit das, was wieder in Ordnung kommen soll, oft in großen Wirren verwickelt. Das geschieht besonders dann, wenn mit der Wahrheit nicht ordentlich umgegangen wird, sondern aus ihrer Aufdeckung ein Problem höherer Ordnung entsteht.
Version 1: Eine Mutter hat Zwillingssöhne in der Schule, der eine lernt mit Fleiß und Mühe und gilt als ganz befriedigend, der andere schreibt gerissen alles ab und schlängelt sich so durch. Das fliegt eines Tages auf. Die Familie berät sich, auch mit den Erziehern. Sie zeigen sich gemeinsam mit dem schwarzen Schaf geduldig, geben ihm Nachhilfe, zwingen ihn durch zeitweilige Strafen, ermutigen ihn und fordern ihn heraus. Trotzdem bleibt er einmal sitzen. Seine erste Freundin rümpft später nur einmal die Nase über seine Noten und leitet eine gewisse Wandlung ein, die immerhin einen passablen Schulabschluss ermöglicht. Alles wird brauchbar gut.
Version 2: Eine Mutter hat Zwillingssöhne, einer fleißig,
einer lebenslustig gerissen. Das erkennen einige Spekulanten beim
analysierenden Durchforsten der Klassenarbeitsbilanzen und Punktelisten.
Da verhandeln sie mit einigen Bankkunden im Ort, die keine Ahnung
von den schlechten Zahlen haben und große Stücke auf die
Familie halten, eine Wette. Sie wetten darum, dass beide Söhne
gleichzeitig den Schulabschluss ohne Sitzenbleiben schaffen. Beide
Seiten setzen eine Million Euro ein. Topp, die Wette gilt!
Sofort stürmen die Spekulanten los und decken die kleinen Betrügereien
des einen Jungen auf. Sie interviewen alle Klassenkameraden und finden
viele neue Anhaltspunkte für Unsauberkeiten. Manche ahnen noch
Dunkleres, was sich später nicht bewahrheitet, aber gut genug
zum Niederziehen ist. Die Spekulanten setzen die Vermutung in den
Raum, dass auch der fleißige Junge wohl etwas zu verbergen hätte.
Darüber ist die Familie sehr erschrocken. Noch schlimmer, sie
bekommt jetzt Vorwürfe von ihren Freunden, die eine Million Euro
auf den Erfolg der Zwillinge gesetzt haben. Die dringen auf sofortige
Mobilmachung aller Kräfte. Die Zwillinge werden zum Tagesgespräch.
Der gerissene Junge zieht sich zurück, der fleißige leidet
unter Stress und Scham und empört sich über den anderen.
Die Zwillinge entzweien sich, der Fleißige will, dass sofort
alles in Ordnung kommt. „Was macht es schon, wenn ich einmal
sitzen bleibe?“, streikt nun trotzig das schwarze Schaf und
findet, dass noch gar nichts verloren ist. Die Familie kocht, die
Freunde werden ungeduldig. Das Sitzenbleiben ist zwar keine Katastrophe,
aber angesichts der eingegangenen Wette ist sie nun sehr wohl eine
für die Freunde. „Sitzenbleiben ist keine Option mehr!“
Die wohl gesonnenen Wettfreunde schimpfen. Das kommt den Spekulanten
zu Ohren. Sie jubeln diese Nachricht überall hinaus – nämlich,
dass die Gegenwetter offenkundig nun ganz und gar nicht mehr hinter
ihrer Wette stünden und sich auf hohe Verluste einrichten müssten.
Nun überstürzen sich die Ereignisse. Die Mutter macht der
Schule Vorwürfe, die Lehrer bloggen Gegendarstellungen im Internet.
Wettbüros eröffnen Schalter im Dorf und nehmen weitere Wetten
an. Durch den Widerhall im Internet beginnen sich auch Einwohner aus
den umliegenden Dörfern an den Wetten zu interessieren. Kinder,
die die Zwillinge als Insider kennen, werden bestochen, etwas über
die Zwillinge zu verraten.
Die Freunde der Familie fürchten nun ernsthaft um ihr Geld und
leiten Hilfsprogramme ein. Die Kinder werden Tag und Nacht gedrillt,
sind aber psychisch völlig überfordert. Der fleißige
Junge verstockt, er findet, er habe gar nichts damit zu tun. Er werde
ja immer normal versetzt, und nun solle er zur Sicherheit mehr lernen
und ebenfalls gedrillt werden, damit er seinem Bruder helfe? Der andere
kommt irgendwann auf die Idee, sich selbst am Gewinn der Parteien
beteiligen zu lassen. „Bekomme ich eine halbe Million, wenn
ich einfach nichts mehr tue und sitzen bleibe?“ Dieser feine
Gedanke setzt weitere Wellen in Gang. Der Arbeitgeber der Mutter sieht
sie völlig überlastet und droht mit Entlassung. Die Bank
fürchtet jetzt um das Hausdarlehen und fragt unruhig nach. Die
Wellen schlagen immer höher, weil die Wetten Schwindel erregende
Summen angenommen haben. Das Fernsehen untersucht, ob es ein Verbrechen
wäre, wenn einer der Söhne absichtlich sitzen bleiben würde.
Es häufen sich Meldungen, dass etwas mit der Schule nicht stimmt
und wahrscheinlich auch nicht mit dem Ort, der von Journalisten wimmelt.
Imbissbuden sprießen an Straßenrändern. Sie hoffen
darauf, dass es zum Sitzenbleiben kommt und danach ein weiteres Jahr
hindurch zu neuen Wetten, anschließend zu einer Börsennotierung
der Zwillinge. Eine Immobilienspekulation beginnt. Makler reden Alteinsässigen
den Niedergang des Ortes ein und reichen die verkauften Häuser
gleich an Spekulanten weiter, die ihre Wetten ausweiten…
Und irgendwann stand da ein großäugiges kleines Mädchen,
hatte den Daumen im Mund und fragte alle treu und unschuldig: „Was
ist eigentlich das Problem?“ Und sie schrieen durcheinander,
dass das ganze System und die weltweite Ordnung gefährdet seien.
Da fragte das Mädchen: „Welche Ordnung?“