Cyber-Nanni, Cyber-Manni (Daily Dueck 114, Mai 2010)

Mein Schachcomputer spricht mit mir, er heißt wohl Fritz (der Achte, wenn Ihnen das etwas sagt). „Turmtausch nach Schablone!“, mault er enttäuscht oder, vom Warten auf mich nervös geworden: „Soll ich dir mal einen guten Zug vorschlagen?“ Da kam mir eine geniale Idee! Die Schachstimme oder die abgehackt sprechende Frau in meinem Navi sind so etwas wie ein anders gepoltes Tamagotchi, oder? Eine Cyber-Nanni passt auf mich auf!

Das ist die Idee! Tamagotchis sind Kunstwesen, die wir wie Haustiere halten und bemuttern können. Sie waren Ende der 90er Jahre groß in Mode und kamen in neuerer Zeit nochmals auf. Wenn man sie nicht genug küsst oder füttert, können sie glatt sterben, es gibt im Internet virtuelle Friedhöfe für Tamagotchis. Bei meinem Navi ist es anders herum. Die künstliche Frau da drin sagt immer Achtung, wenn ich zu schnell fahre. Allerdings habe ich das im Navi selbst eingestellt. Sie soll das tun. Ich kenne das Gleiche von Beifahrerinnen, die mir aber zu unzuverlässig reagieren und oft einen kränkenden oder sogar verzweifelten Unterton in der Stimme haben, als würde ich sie umbringen wollen. Meist ärgern sie sich aber, dass ich zu langsam fahre, denn es ist oft von angeblich unnötigen 137 PS die Rede, die mein kleiner Volvo hat.
Es fasziniert mich, dass ein normaler Schachcomputer, der mich nur über meine paar Züge und die verbrauchte Bedenkzeit kennt, der also über sehr wenige Daten über mich verfügt, zu so sehr treffenden Bemerkungen über meine Spielweise imstande ist, dass er so etwas wie ein ätzender Freund wurde. Auch die Frau im Navi kennt mich kaum, sie hat nur geringe Kenntnisse von mir. Sie weiß, wohin ich normalerweise will, und sie weiß um meine gewöhnlichen Reaktionen auf ängstliche Routenänderungsvorschläge, um einen befürchteten Stau zu umfahren. Ich finde sie im Großen und Ganzen zu synthetisch, ich möchte eine neue Navi-Frau. Allenfalls ihre Aufforderung „Jetzt bitte wenden!“ klingt ein bisschen emotionaler, so wie bei Fritz.
Mit ein wenig Liebe zum Detail könnte sie sich doch ordentlich aufregen, wenn ich im Auto ans Handy gehe oder Apfelschorle am Steuer trinke. Sie könnte sich der Situation anpassen und auch mal fröhlicher sprechen. „Du fährst aber schwungvoll, wie viel hast du getrunken?“ Dann sage ich es ihr und sie erzählt Witze, damit ich wach bleibe.

Das brachte mich auf den Gedanken, eine Cyber-Nanni zu erfinden, die alle Daten über mich aus dem Netz, aus dem Navi oder von mir selbst über Sensoren kennt und mir dann dabei hilft, ein ganz normales Leben zu führen. Viele Erziehungsberechtigte schaffen es ja auch mit einem relativ eingeschränkten Idiomsatz, ihre Kinder oder Schüler zielgenau zu steuern. „Pass auf. Was habe ich gesagt! Du hörst nicht zu. Das darf man nicht. Nicht denken, machen. Man kann sich auf dich nicht verlassen. Andere sind besser. Das kannst du nicht. Okay, ich versuche es einmal anders herum: Danke! Aber du musst es jetzt sofort honorieren, wenn ich ausnahmsweise relaxed mit dir umgehe.“ Damit kamen wir auf dem Bauernhof auch bei Hunden und Pferden aus.
Wir erfinde ich eine Cyber-Nanni? Ich könnte doch ein wahnsinnig gutes Business daraus machen. Die normale schlechte Erziehung von Kindern ist defizitorientiert, sagt man. Sie schimpft über abweichendes Verhalten. Das ist ja im Navi schon drin! Loben dagegen muss einen Sinn für das Gute, das Wesentliche oder Eigentliche haben, das ist schwer zu programmieren. Natürlich kann ich künstliches Loben einbauen, also die Cyber-Nanni immerfort brabbelnd dann loben lassen, wenn keine Abweichungen zu bemeckern sind, wenn also, wie es im ernsten Leben hieße, „die Zahlen stimmen“.

Ich beschloss, meine Idee nicht geheim zu halten und mich einem Freund anzuvertrauen, der alle paar Jahre ein neues Unternehmen gründet, weil er reich werden will. Dabei ist er wahrscheinlich für wirkliches Arbeiten nur zu verspielt. Ich erzählte ihm von meiner Idee – und er reagierte wechselnd errötend, peinlich berührt und auch jauchzend begeistert. Er wusste nicht, ob und was er sagen sollte, dann gestand er mir schließlich, dass er streng geheim an eben einem solchen Weltunternehmen arbeiten würde. Er konstruiert nämlich seit einiger Zeit einen Cyber-Manni, einen automatischen Manager. Er hatte den Gedanken an eine automatische Erziehung verworfen, weil die Erziehung zwar allgemein defizitorientiert ist, aber als absichtliches Produkt wahrscheinlich auf die Kritik der Verbraucherverbände und möglicherweise auch der Kirchen stoßen würde.
Dagegen ergaben seine Marktuntersuchungen, dass praktisch alle Beratungsmethoden im Management nach so genannten „Pain Points“ beim zu Beratenden suchen und ihm diese gegen einen hohen Preis unter die Nase reiben. Auch das gängige Verfahren des „Management by Review“ sei fast punktgenau defizitorientiert. Diese schon vollkommen eingeübten und erprobten Methodologien könnten relativ leicht in einen Cyber-Manni einprogrammiert werden. Normalerweise seien die verfügbaren Leistungsparameter über einen Mitarbeiter nicht viel informativer als die Kenntnisse von Fritz über mich beim Spielen.
Mein Freund grübelte noch über einem Business-Modell. Wie käme er an eben diese ganz wenigen Unternehmensdaten heran, damit der Cyber-Manni defizitorientiert agieren könnte? Er befürchtete, dass er für jedes Unternehmen eigene Schnittstellen zu Daten einrichten müsste. Ich riet ihm, diesen Gedanken fallen zu lassen. Er könne den Cyber-Manni doch so einstellen, dass er den Mitarbeiter einfach selbst fragt, ob er Defizite habe – so wie mein Navi erst mich selbst nach meinen Promille fragen könnte. Und wenn der Mitarbeiter sich selbst schlecht finde, werde er automatisch beschimpft! Und Manager, die schlechte Zahlen hätten, kämen automatisch von der Karriereleiter für ein Jahr auf die Stille Treppe. Wir redeten hin und her, tranken Rotwein und wurden immer optimistischer. Wir würden den Cyber-Manni entlang simplifizierender Minimalerziehung konzipieren.

Im Grunde brauchen wir ein defizitorientiertes „Schlechtes Gewissen“, oder? Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Man muss Cyber-Skinner-Boxen erfinden! Mit Pavlovian Yield-Award-Optimization! „Weißt Du was“, fiel mir ein – und ich starrte an die Decke und verstummte. Auch der Religion und dem Menschsein an sich würden sich ganz neue Wege eröffnen…

Gunter Dueck

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