Links im Sinnraum
Ich – bleib bei mir! (Daily Dueck 113, April 2010)
Ein kleines Mädchen mit einem Zettel in der Hand ist endlich beim Bäcker an der Reihe. „Sechs Bärlauchbrötchen, bitte.“ Es sind aber keine da. Das Mädchen schaut ratlos, alle lesen den Befehl auf dem Zettel nach und machen Alternativvorschläge. Es schaut immer ängstlicher und geht mit „so ähnlichen Brötchen“ schluchzend heim. Mama wird schimpfen, weil sie ganz enttäuscht ist. „Bring ganz genau diese Brötchen mit, andere schmecken von da nicht, hörst du? Wirst du das können? Bist du schon groß? Wir wollen sehen, ich vertraue auf dich.“
Freud hat uns die Vorstellung vom Über-Ich gegeben. Etwas in uns sagt, dass wir nicht richtig handeln. Das Gewissen plagt uns, das Gefühl des Versagens nagt an uns. Die Mutter, der Vater, der Chef reden zu uns, wenn wir handeln oder auch sonst. Was werden oder würden sie zu unseren Entscheidungen sagen? Beim Bäcker geht es los… Auch heute Morgen hat der Bäcker für mich selbst nicht die gewünschten Brötchen gehabt, es war schon halb zehn. Auf dem Rückweg zwitscherten sogleich die Stimmen in mir. Ich erklärte den Stimmen, warum ich genau diese anderen „so ähnlichen Brötchen“ mit Liebe gewählt hatte. Sie erkannten diese Liebe nicht an, weil ihnen die ungewollten Brötchen deutlich schlechter schmecken würden – so behaupteten sie. Ich schlug den Stimmen vor, doch selbst einmal zum Bäcker zu gehen. Das lehnten sie ab. Sie bemängelten, dass ich ja für mich selbst Brötchen gekauft hätte, die mir am besten schmeckten – so nahmen sie an. Ich erklärte, dass es auch keine Käsebrötchen gegeben hätte – und ich gab zu, dass ich mir mein zweitbestes Brötchen besser aussuchen hätte können als für sie, weil ich mich besser kennen würde.
Als ich nach Hause zurückkam, wurden die Stimmen ganz real und
waren mit den von mir gewählten Brötchen nicht glücklich,
die Szene spielte sich aber viel schneller ab als auf dem Heimweg,
wo die Stimmen länger mit mir geschimpft hatten und ich härtere
und bessere Argumente hatte als real zu Hause. Die inneren Stimmen
sind zwar viel exzessiver als die echten, aber sie stecken meine Kritik
auch besser weg, so dass ich mich innerlich traue, furchtbar wütend
gegen sie zu werden, was real nie vorkommt.
Der Kaffee war noch nicht ganz durchgelaufen, da schaute ich noch
kurz in die Rhein-Neckar-Zeitung. Dort wurde der Heidelberger Psychologe
Roland Kopp-Wichmann zu seinem neuen Buch „Ich kann auch anders“
interviewt. Der empfiehlt doch tatsächlich Leuten, in der Heidelberger
Fußgängerzone mit erhobenen Händen bummeln zu gehen!
Dann passiert nämlich folgendes: Wer das tut, weckt sofort in
seinem Inneren diese Stimmen auf, die mit ihm sein eigenes seltsames
Verhalten diskutieren. Die Stimmen tun so, als wären sie Passanten,
die sich über die erhobenen Hände wundern. „Spinnt
der? Warum macht er das?“ Durch diese heftigen inneren Streitgespräche
kommt man gar nicht mehr zum Bummeln. Man passt nur auf die Passanten
und die Hände auf und diskutiert im Innern. Im Klartext: Man
ruht nicht mehr in sich selbst. Man ist nicht mehr man selbst. Das
Ich hält nicht mehr die Mitte, es zetert mit anderen Kräften
herum, es ist angespannt und gestresst.
Das kleine Mädchen leidet wirklich, wenn es den Auftrag nicht erfüllt – so wie ich auch, wenn ich die in mich gesetzten Erwartungen an die mitgebrachten Brötchen nicht erfülle. Aber, liebe Leute, das sind nur kleine Brötchen! Kein Vergleich damit, wenn ich nicht den Erwartungen irgendeines Chefs oder Kunden entspreche! Oft soll ich – bildlich gesprochen – irgendwelche Dinge besorgen, aber ich stelle vermehrt fest, dass man mir zu wenig Geld mitgegeben hat, was ich aber nicht als Grund angeben darf, wenn ich mit leeren Händen zurückkommen sollte. Dann brodelt es in mir! Die Kunden oder die Autoritäten erscheinen in mir und helfen mir, sie motivieren mich, machen mir Angst und fordern, dass ich mich beeilen soll. Sigmund Freud hat behauptet, dass da ein Über-Ich anstelle meiner Eltern in mir tobt, aber es sind ganz bestimmt nicht meine Eltern, es sind wahnsinnig viele andere, die von mir etwas wollen – hauptsächlich, dass ich mich zerreiße oder etwas ganz anderes in meinen Büchern schreibe, nämlich ihre Meinung. Und dann diskutiere ich innerlich mit ihnen. Das kostet viel Zeit, in der ich lieber arbeiten sollte. Das sagen sie mir allerdings auch: Ich sollte nicht mit ihnen, den Stimmen, reden, sondern zügig handeln! Sie wollen, dass ich auf sie höre, aber keine Zeit damit vertrödele, ihnen zuzuhören. In der Zeit, wo ich mit den Stimmen Ausreden über die falschen Brötchen verhandele, könnte ich mir doch auch den Stoff zum Beispiel für ein neues Daily Dueck ausdenken.
Aber ich kann nur gut arbeiten, wenn keine Stimmen da sind. Wenn
ich ich bin, wenn ich bei mir bin, wenn ich mich auf die Arbeit konzentriere.
Oft sage ich: „Lasst mich in Ruhe!“ Das gilt nicht nur
physisch etwa in dem Sinne, dass ich in einem ruhigen Zimmer sitzen
möchte. Nein, die Stimmen sollen wegbleiben. Sie sollen nicht
über Bonuszahlungen diskutieren, nicht über Deadlines und
über meine bestmöglichen Entscheidungen in Situationen,
wo das, was ich besorgen soll, „beim Bäcker nicht mehr
da ist“. Sie sollen nicht warnen, dass die Bahn nicht kommt
oder die Familie bei lauwarmem Essen wartet. Viele Vorträge auf
Tagungen berichten von einer Art Tinnitusepedemie. Vielleicht haben
manche Leute noch viel mehr Stimmen als ich im Ohr, so dass alles
irgendwann zu einem Dauerton verschmilzt und dann als Tinnitus behandelt
wird? Oder es gibt einen Hörsturz mit sofortiger Ruhe?
Ich meine jetzt nicht, dass die Stimmen ganz wegbleiben sollten, eine
von ihnen heißt ja Gewissen, eine andere Verantwortungsbewusstsein,
eine dritte Zivilcourage und so weiter. Aber wenn es zu viele Stimmen
sind, endet es in Kakophonie. Sie müssten sich besser einigen
und gemeinsam sprechen. Mit einer Stimme. Und dann müssten sie
derart gemeinsam sprechen, dass sie sich nicht gegen das Gewissen
und das Verantwortungsbewusstsein stellen, auch nicht gegen die Zivilcourage,
den Respekt vor anderen und die Liebe zur Menschheit. Da aber diese
paar eigentlich schon genug sagen – brauchen wir die anderen
dann noch?