Leased Brain (Daily Dueck 110, März 2010)

Wichtige Entscheidungen brauchen tiefe Versenkung auch in Details und vor allem Zeit. Die aber haben die Entscheidungsträger meist nicht. Sie sind – so sagen sie fast alle – im Tagesgeschäft versunken und gelähmt. Sie lassen also Berater, Assistenten oder zusammen gewürfelte Arbeitsgruppen schnell abnickbare Entscheidungsvorlagen erarbeiten. Leased Brain.

Früher unterschied man zwischen Kernkompetenzen und den sonstigen. Im Kern agiert und entscheidet ein Unternehmen selbst, den Rest kann es outsourcen. Dahinter steht der Gedanke, nur all das selbst zu machen, was man gut kann. Das, was andere besser können, sollen auch diese andere tun.
Ich habe mich oft gefragt, was Unternehmen tun sollen, die gar nichts gut können. Diese Frage ist von den Unternehmen insgesamt gar nicht gestellt worden und wurde folglich kaum richtig von Wissenschaftlern erforscht – die scheinen auf so etwas auch nicht von selbst zu kommen. Unternehmen, die durchgängig schlecht in allen Aspekten sind, agieren natürlich wie Schüler, deren Versetzung dauerhaft gefährdet ist und die sich in jedes neue Quartal ohne rechtes Ergebnis hineinschleppen. Sie kämpfen immer um das bisschen Überleben, das die fünf plus von der vier minus trennt. Für etwas anderes haben sie absolut keine Zeit, und sie haben ganz bestimmt keine Zeit, gravierende Entschlüsse zu fassen. Die werden einfach durch Wunschträume ersetzt: „Ich will Nummer 1 werden. Mama ['Aufsichtsrat'] sagt auch, dass ich das schaffen kann, wenn ich nur will und einmal Zeit habe.“ In der Schule sieht ausnahmslos jeder, dass viele versetzt werden, die eigentlich nichts gut können, aber bei Unternehmen wird angenommen, dass sie zwangsläufig etwas gut können müssen, weil sie ja noch nicht Pleite gegangen sind.
Das muss alles ein schwerer Irrtum sein, so sehr unterscheidet sich Wirtschaft vom Schulleben nicht. Es muss nach gesundem Menschenverstand sehr viele Unternehmen geben, bei denen nach den normalen Grundsätzen überhaupt alles outgesourct werden kann.

Das alles fiel mir ein, als Helmuth Justin mir in einem Leserbrief mit seiner Formulierung „Leased Brain“ einen Lichtblitz schenkte. Wir sehen doch überall, wie sogar die allerwichtigsten Tätigkeiten in Unternehmen von Leihkräften ausgeübt werden! Unsere Ministerien bestellen sich Gesetzesformulierungen bei Spezialkanzleien, die das deutlich besser können – auf diese Weise können die Ministerien ihre vielen Mitarbeiter für Wichtigeres einsetzen als für neue Bestimmungen und Gesetze. Maschinenbau- und Automobilkonzerne lassen Spezialfirmen neue Produkte erfinden und entwickeln. Sie stecken dann nur noch die per Leased Brain erfundenen Produkte an Fließbändern zusammen, die vielleicht auch schon outgesourct sind. Das Verkaufen übernehmen oft Agenturen, Händlernetze und Bonuspartner. Ich sehe fast nie, dass sich ein Unternehmen zusammenreißt und echt darangeht, etwas so gut zu lernen, dass es etwas am besten kann. Es wird immer nur festgestellt, dass „wir etwas nicht gut machen und eigentlich noch nie gut konnten“ und folglich auf Leased Brains zurückgegriffen werden muss.
Wenn man denn wenigstens geniale Brains mieten würde! Aber die fehlende Kompetenz wird um die Ecke bei Werkstudenten, Zeitberatern, Assistenten oder Taskforces gesucht, die nun wirklich das erste Mal vor solchen Aufgaben sitzen. Da verstehe ich es noch, wenn eine exzellente englische Kanzlei die Gesetze aller EU-Staaten gleichzeitig formuliert, da werden die Gesetze bald alle gleich. Die Firma verdient sich von Herzen gegönnt golden, eben weil sie abschreiben und getrennt berechnen kann – und wir gewinnen noch mehr, weil wir die europäische Einheit bekommen! Aber wenn die Unternehmen sich alle auf die gleiche Art am Markt differenzieren?

In der Schule geht das so: „Ich kann eigentlich nichts gut, ich habe alles abgewählt, wo es zu schmerzen beginnt. Nun kann ich fast nichts mehr studieren, ohne dass es sofort wieder zu schmerzen beginnt, deshalb studiere ich etwas, wovon in der Schule nie die Rede war – wo ich also noch gar nicht schlecht bin. Es könnte sein, dass ich genau darin gut bin. Gibt es so ein Fach, wo ich später gleichzeitig noch das meiste Geld verdiene?“ (Antwort gegen Geld bei Beratern.)
Und der Unternehmensstab geht auch oft wie eine Hähnchengyrosbude vor: „Immer, wenn wir uns beim Gegrilltwerden das Außenfell verbrennen, schneiden wir das Angebrannte ab und verkaufen es schnell, dadurch wird alles immer schlanker und leaner. Am Ende bleibt nur noch der Stab übrig, unsere Kernkompetenz.“

Hilfe! Wir müssen wieder selbst denken, selbst lernen und Kompetenzen erwerben! Nicht wegleasen! ERWERBEN! Wo kam denn sonst die Kompetenz von Apple, Google etc her?
Auf allen Konferenzen wird täglich zigmal angedeutet, dass „wir um vieles besser wären, wenn wir immer unsere Hausaufgaben gemacht hätten ('gemacht hätten', sagen sie alle, nicht 'machen würden')“. Das sagte uns Mama schon immer. Hören wir doch einmal auf sie, die so oft seufzte. THINK! ACT! YOURSELF.

Gunter Dueck

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