Menschenpuffer (Daily Dueck 109, Februar 109)

Wieder einmal diskutieren wir öffentlich gelb ärgerlich über Leistungsverweigerer oder platt beim süddeutschen Stammtischbier über „faules Pack“, das nicht zu fünf Euro die Stunde bei täglicher Kündigungsfrist arbeiten will. Zeitungen und Fernsehen zeigen uns vermasselte Lebensläufe und zerrüttete Verhältnisse. Ehen von Einzelverdienern werden geschieden, damit der andere arm im Sinne des Gesetzes ist und Staatsgeld abzocken kann. Wie kommt es dazu? Es ist die unsichtbare Hand von Adam Smith, die immer dann regiert, wenn keiner etwas tut.

Wirtschaft vollzieht sich in Wellenlinien. Es geht auf und ab. In guten Zeiten gedeihen die Unternehmen prächtig, in schlechten haben sie zu kämpfen. Vernünftige Unternehmen kennen das und sorgen vor, indem sie in guten Zeiten einiges Fett ansetzen, was sie unter Druck wieder ausschwitzen können. Sie gehen sorgsam mit dem um, was wir Unternehmerrisiko nennen. Dafür sei es ihnen von Herzen gegönnt, mehr Gewinn auf ihr Eigenkapital zu scheffeln als durch risikolose Anlage in Staatsanleihen.
Die Rücklagen und Rückstellungen (etwa für Betriebsrenten) eines Unternehmens bilden das nötige Fettpolster, um Rückschläge beim ewigen Hin und Her zu verkraften.

Nun haben sich aber die Unternehmen in den letzten Jahrzehnten überlegt, den Risikopuffer nicht mehr nur in Form von Kapital anzulegen, sondern die Risiken auf die Arbeitnehmer abzuwälzen. Sprich: Das Unternehmen zehrt bei schwacher Wirtschaft nicht von den Rücklagen, sondern entlässt so viele Mitarbeiter wie nötig. Leistungsschwächere Mitarbeiter werden zu einem Menschenpuffer. Durch den Einsatz von Leiharbeitern als atmende Menschenreserve werden lange nicht mehr so viele Kapitalreserven in Form von Rücklagen benötigt. Der Aktienbesitzer muss nicht mehr so viel vorsor-gen. Er kann das Unternehmen „schlank finanzieren“, also mit weniger Einsatz als früher mehr Ge-winn erzielen.

Damit organisieren wir die Wirtschaft in der Reinform von einst. Einer Oberschicht geht es gleichmä-ßig gut und das Risiko wird durch die Masse der Arbeiter getragen. Dieses Hin und Her im Elend der Arbeiter ist die „unsichtbare Hand“, die über der Wirtschaft wacht und alles im Gleichgewicht hält.

Im seinem berühmten Hauptwerk Der Wohlstand der Nationen (1776) geht Smith näher auf dieses Gleichgewicht ein:
Der Wohlstand eines Staates steigt also mit der (arbeitsfähigen) Einwohnerzahl. Um den Faktor Arbeit zu vermehren, muss die Nachfrage nach Arbeit (und damit die Lohnhöhe) so weit steigen, dass die unteren Schichten mehr Kinder aufziehen können. Steigt der Lohn über die zur Aufzucht ausreichender Arbeitskräfte nötige Höhe, so wird ihn die übermäßige Vermehrung bald wieder auf die nötige Höhe herabdrücken. Dies funktioniert auch umgekehrt: Vermehrt sich die „Spezies Mensch“ zu stark, so wird ihr durch Nahrungsmittelknappheit eine Grenze gesetzt. Dies geschieht dadurch, dass die meisten der in den fruchtbaren Familien der unteren Schichten geborenen Kinder sterben.

Diese Theorie beten wir heute an.

Heute steigt der Wohlstand eines Staates mit dem Bruttosozialprodukt. Wenn es steigt, verbessert sich das Leben der Schwachen. Wenn es fällt, landen Schwache und Arbeitslose in vergleichsweisem Elend, eben weil wir die Schwankungen nicht mehr durch Kapitalrücklagen ausgleichen wollen.

Wollen wir das wirklich nicht? Gestehen wir den Unternehmen die hohen Gewinne auch dann noch zu, wenn sie die Unternehmensrisiken auf Schwache abwälzen? Die bekommen dann Hartz IV, aber diese Gelder sind doch Kapitalrücklagen oder Schulden wiederum der Schwachen, die sich gegenseitig helfen?

Wir organisieren Wirtschaft bewusst so, dass die Menschenpuffer das Gleichgewicht erhalten. Die Kinder der unteren Schichten lassen wir nicht sterben wie im 18. Jahrhundert, aber sie werden nicht entfernt artgerecht aufgezogen, nicht wahr?

Voller Kummer verfolge ich die derzeitige Debatte, dass sich nun die Millionen Angehörigen des Menschenpuffers noch Vorwürfe der prinzipiellen Faulheit anhören müssen. Diese Vorwürfe werden durch genüssliche Reality-Shows mit Gestrandeten untermauert – wie die zusehen, wie sie ohne Leistungen an Geld kommen – ganz furchtbar ungeschickt mit denen verglichen, die uns zur Finanzkrise beutelten. Wollen wir nicht lieber zu einer Unternehmensverantwortung zurück, die Rücklagen für Rückschläge bildet?

Und ich hörte Menschen aus dem Puffer verzweifelt schreien: „Ihr Arbeitsplatzbesitzer verachtet uns und haltet uns für Loser und behandelt uns wie Aussätzige! Auch euch selbst kann es treffen! Jederzeit und ganz unschuldig bei voller Leistungsbereitschaft!“
Da dachte ich an die vielen Leserbriefe aus allen möglichen Unternehmen und Institutionen, die vom unsäglichen Leiden unter Leistungsstress berichten und von Versagensvorwürfen im Angesicht hochgesteckter Ziele. Es könnte sogar sein, dass es uns vor dem Stranden schlechter geht als nachher – es ist die Angst, selbst irgendwann im Menschenpuffer aufzugehen.

Gunter Dueck

© 2005 Gunter Dueck l design: nukke.de (ad+bvp)