Links im Sinnraum
Bildschirmrückseitenberatung als Internet-Ersatz (Daily Dueck 107, Januar 2010)
Kennen Sie dieses Gefühl des defätistischen Verlorenseins, wenn Sie beraten werden? Wir gehen irgendwo hin und da sitzt eine/einer vor einem Bildschirm. Wir dürfen Platz nehmen, manchmal gibt es sogar Kaffee. Wir schauen auf die Rückseite des Bildschirms. Lange Zeit. Was geschieht hier eigentlich?
Das Ganze wird Beratung genannt, glaube ich. Gehen Sie irgendwohin.
Fragen Sie nach Personalausweisen, einem neuen Auto, einer risikolosen
Geldanlage oder nach einer Reise. Sofort geht es los: „Wie ist
Ihr Name? Immer noch derselbe? Ich schaue kurz drüber, ob die
Daten noch stimmen. Bitte geben Sie mir Ihren Fahrzeugbrief, damit
wir alle Daten eingeben.“ – „Wollen Sie mein Gebrauchtauto
nicht einmal anschauen? Ich hab es extra gewaschen und innen das erste
Mal gesaugt, es sind auch keine Tannennadeln mehr im Kofferraum. Tiptop,
außer der Beule hinten.“ – „Bitte, alles nach
der Reihe. Ich muss erst zehn Minuten lang alles vom Fahrzeugbrief
abtippen.“ – „Aber wenn hinterher kein Deal zustande
kommt, brauchen Sie doch das alles nicht? Meine Adresse und so.“
– „Doch, doch, diese Prozedur ist so langweilig für
Sie, dass Sie keine Zeit haben, sie woanders zu wiederholen. Außerdem
verkaufen wir Ihre Daten, damit machen wir schon Gewinn, auch wenn
Sie nichts kaufen. Sprechen Sie mich bitte ein paar Minuten nicht
an, damit ich mich voll auf den Bildschirm konzentrieren kann.“
Ich schaue dann eben auch auf den Bildschirm. Der Berater tippt. Ab
und zu runzelt er die Stirn. Er schimpft leise und flüstert,
etwas funktioniere nicht. Er beginnt offensichtlich, alles neu einzutippen,
weil sein Zeigefinger auf dem Fahrzeugbrief wieder hoch wandert. Ich
werde nervös. Er will darauf nicht eingehen und demonstriert
Konzentration. Ich fürchte, er wechselt jetzt das Betriebssystem
oder bootet neu. Ich bin sicher, dass ich es besser eintragen könnte.
Ich starre auf die Rückseite des Bildschirms und versuche, Gelassenheit
zu bewahren. Er schüttelt nun öfter den Kopf. Ich weiß
jetzt, dass etwas nicht geht. Ich weiß, dass es jetzt noch zehn
Minuten dauert, bis er jemand anderen um Hilfe bittet. Endlich, schon
nach acht Minuten: „Waltraud, schau mal.“ Sie kommt nach
wenigen Minuten und drückt zweimal Enter. Es geht wieder weiter.
Der Berater tippt, sie schüttelt den Kopf und gibt immer wieder
kleine Hinweise.
Kennen Sie das? Beim Autokauf kommt nach langen Wehen der Wert der
Schwacke-Liste aus dem Computer, den wir uns schon woanders besorgt
hatten. In dem Büchlein (der „Printversion“) könnte
der Berater auch nachschauen, aber das soll er nicht, weil wir dann
bestimmt verhandeln werden. Mit dem Computer geht das nicht richtig.
Der sagt Nein.
Das war jetzt ein harmloser Fall. Aber wenn Ihnen das in Zeitnot beim Hotelauschecken/Taxihupen oder am Flughafen passiert? Am besten nicht Ihnen selbst, sondern dem letzten Möchtegernpassagier vor Ihnen? Da schauen Sie noch viel konzentrierter auf den Flachbildschirm und bald in die Röhre! Letzteres haben Sie bestimmt schon bei einer Bank getan. Wieder Daten und Daten, solange Daten, bis der Computer von allein weiß, was Ihnen verkauft werden muss. Der Computer schätzt Ihre Risikobereitschaft, Ihren Kenntnisstand, den Grad Ihrer Introversion und den Peinlichkeitsgrad bei wortringenden Feilschversuchen – am Ende berechnet er genau, welches der drei Produkte Sie kaufen, die jetzt gerade forciert werden. Immer starren Sie auf die Bildschirmrückseite.
Beratung ist doch etwas, wobei man sich in die Augen schaut und Vertrauen gewinnt? Ich will doch mehr, als von einer den Computer fütternden Stirnrunzelmarionette die Auskünfte des Rechners verraten zu bekommen?
Mir hat neulich ein genervter Computernutzer den Stoff zu diesem
Rückseitenanstarrthema geschickt. Er rief bei einer Helpline
an, weil sein Computer streikte. Er musste wie immer erst seine Personalnummer,
die Rechnungsadresse und sein sonstiges Familienleben eingeben, dann
sagte eine Computerstimme: „Dieser Service wird nun nicht mehr
von Menschen für Sie erbracht. Wir haben eine Frage-Antwort-Software
erstellt, nach der allmählich Call-Center-Mitarbeiter auch dann
Ihren Computer wieder durch Ratschläge reparieren konnten, wenn
sie selbst noch nie einen Computer gesehen hatten. Call-Center-Mitarbeiter
fragen einfach der Reihe nach, ob Sie sicher sind, dass Sie wirklich
einen Computer vor sich haben, ob die Stecker festsitzen und ob Strom
kommt usw. Diese Art von persönlicher, individueller Beratung
ging mit der Zeit so gut, dass wir nun Ihnen selbst zutrauen, den
Service eigenständig durchzugehen. Klicken Sie also auf die Website,
die den Service neuerdings für Sie übernimmt. Geben Sie
wie gewohnt alle Daten über Ihr Leben ein und die Rechnungsadresse.
Sie bezahlen denselben Betrag wie früher, aber nun als Lizenzgebühr.
Sie werden feststellen, dass Sie mit dem Programm besser zurecht kommen
als die früheren Servicemitarbeiter. Damit bieten wir Ihnen ja
auch einen besseren Service – ganz ohne Mehrkosten.“
Und das Witzige ist: Es stimmt, es geht viel schneller, wenn man es
selbst macht.
Aber beim Arzt? „Haben Sie den Krankenschein? Die Praxisgebühr? Woran glauben Sie zu kranken? Ich gebe alles in den Computer ein, damit der ausrechnet, wie viele Sekunden Ihre Behandlung voraussichtlich dauert. Danach rechnet er aus, wie lange sie dauern darf, damit die Praxis nicht schließen muss…“ Oder beim Rechtsanwalt? Alle starren auf Bildschirme, die Versicherungsagenten, die Reiseberater – alle – bald sogar Finanzbeamte.
Es wird immer schlimmer. Ich trage Trauer. Erinnern Sie sich noch
an Daily Dueck 2? Darin schrieb ich das erste Mal vom Intelligenzsparen.
Daraus entstand noch im selben Jahr 2005 das Buch Lean Brain Management,
das eigentlich als Satire gedacht war, aber jetzt wie früh visionär
erscheint. Im neuen Buch AUFBRECHEN! erkläre ich das Ende der
Dienstleistungsgesellschaft. Die Dienstleistenden verschanzen sich
erst hinter Flachbildschirmen und dann verschwinden sie selbst darin.
„Die Welt im Netz.“ Ist das wirklich vorbei, anderen in
die Augen zu schauen? Wird nicht das Verschwinden der Augen durch
das neue deutsche Wort „Face-to-face“ signalisiert, das
die Seitenbedeutung einer eigentlich zu kostspieligen Ausnahme hat?
„Augen nur ausnahmsweise, sonst Flachbildschirmrückseite.“