Links im Sinnraum
Yips – Vor dem Höllentor der Entscheidung (Daily Dueck 106, Januar 2010)
Machen Sie eigentlich traumhaft sicher die Big Points, wenn es wirklich darauf ankommt? Oder sind Sie Trainingsweltmeister aller Klassen? Gerade ist Phil Taylor, den sie „The Power“ nennen, wieder einmal Dart-Weltmeister geworden. Er spielt vollkommen seelenruhig und scheint absolut ausgeglichen. Der Dart fließt nur so von seiner Hand ins Bull’s Eye, aber sehr viele andere Spieler leiden unter der so genannten Dartitis. Sie können nicht loslassen.
Ja genau, sie können den Pfeil nicht loslassen! Oder sie lassen
ihn nur quasi ungern los, sodass er zu tief auf der Scheibe ankommt
– das Ergebnis ist eine Punktekatastrophe. Im Hirn eines Dartitis-Kranken
versagt etwas. Der Wille verliert gegen die Angst. Die Angst blockiert
die Hand.
Seitdem der damalige fünfmalige Dart-Weltmeister Eric Bristow
von seiner Loslassschwäche berichtete und sich nach einem Leistungseinbruch
unter höchster Selbstdisziplin wieder bis zur Nummer 1 hochkämpfte,
ist das Phänomen weithin bekannt geworden.
Es scheint viele Spieler zu befallen, aber meist erst dann, wenn sie
es zu einiger Meisterschaft gebracht haben. Fürchten sie sich
vor der Entscheidung? Verkrampfen sie in Höllenqualen vor der
Schwelle, die Triumph oder Versagen bedeutet?
Es gibt viele Ratschläge im Internet, wie man die Dartitis wieder
loswird. Am besten ohne Druck und ohne Publikum spielen! Keine internen
Leistungserwartungen mitbringen! Viel Geduld – am besten eine
Meisterschaftssaison aussetzen! Wer die Dartitis besiegt, berichtet
oft, dass der Sport nie wieder so schön wie früher geworden
ist.
Weil mich das Thema interessiert hat, während Phil The Power Taylor gerade im Finale überlegen Weltmeister wurde, stieß ich beim Googlen auf eine andere Krankheit: sie heißt Yips und tritt beim Golfen fast nur beim Einlochen auf und soll bis zu einem Drittel der Spieler in der einen oder anderen Stärke befallen. Bernd Langer wird als berühmtes Beispiel angeführt, der 1988 am vorletzten Loch der British Open fünf Schläge für den letzten Meter zum Loch benötigte. Ratgeber über Ratgeber raten zu Entspannungsübungen, damit sich der Schläger ruhig zum Putt schwingt.
Gibt es noch mehrere solcher Verkrampfungen, die durch eine große
Angst vor dem schlechten Ausgang und der Häme der Zuschauer verursacht
werden? Ich schaue… Goldfieber befällt die Bogenschützen!
Sie haben Schusshitze. Sie können das Ziel nicht richtig anvisieren
und halten den Bogen gespannt – unter größter innerlicher
Anspannung und Seelenzittern. Es ist wohl wie Lampenfieber der Schauspieler,
wie die Angst vieler Manager, auf die große Bühne zu einer
Rede zu gehen, wie die Angst von Politikern, im TV etwas anderes als
druckreif Korrektes zu sagen.
Es gibt bei den Verkäufern die Abschlussangst – die Angst
vor dem eisigen Nein des Kunden. Wir alle kennen das Gefühl vor
dem Heiratsantrag, wir fragen lieber erst, wenn die Zustimmung sicher
ist. Viele Verkäufer müssen unbedingt vor Jahresende noch
die Unterschrift des Kunden holen und trauen sich nicht, die Gretchenfrage
zu stellen. Sie eiern herum, weil ein Nein das endgültige Aus
für die dicke Provision bedeuten würde (welche ja eigentlich
ein Anreiz sein sollte). Dadurch machen sie den Kunden unsicher in
seiner Entscheidung und verlieren den Deal.
Viele Manager können sich nicht zu einer Entscheidung durchringen,
besonders nicht zu einer Innovation. Es ist nicht die „Angst,
Fehler zu machen“, wie überall in geredet wird, es ist
wie Yips oder „Decisionitis“!
Kleinanleger wie Investoren starren oft auf die Kurse und können
sich nicht entschließen, zu kaufen oder zu verkaufen. Sie starren
auf diese eine Aktie, die sie schon lange kaufen oder verkaufen wollen
und tun dann täglich nichts – das ist „Stockitis“.
Kinder leiden unter Prüfungsangst bis hin zu totalen Leistungsblockaden,
später haben sie Berufswahl- oder Bewerbungsangst, beim Sport
gibt es Torblockaden.
Für alle Probleme gibt es Heilungschancen – über Atmungsübungen, Entspannung und Ruhe. Im Grunde aber steckt der Teufel in den zu hohen Erwartungen an uns selbst, mögen sie von den Eltern, den Chefs, der Gesellschaft, unserer Familie oder von uns höchstpersönlich stammen. Der Teufel steckt in der Kulmination. Ein einziger kurzer Moment scheint über Leben und Tod zu entscheiden. Unser Leben erscheint vor dem Elfmeter, dem Matchdart, der Investition, dem Heiratsantrag wie ein russisches Roulette.
Wenn wir jung sind, ist alles wie eine Hürde, die wir meistern
werden. Später erst fühlen wir, dass wir womöglich
über beängstigend weite Abgründe springen. Und da reagieren
wir wie Pferde: die bocken, steigen hoch, scheuen oder gehen durch.
Ich glaube, man muss ewig jung bleiben und die ganze Zeit vor Freude
springen, oder? Ich will lebenslang auf hohen Mauern laufen können
und nicht beim Anblick der eigenen Enkel dabei Angstkribbeln im Körper
bekommen. Ich will unbekümmert siegen wollen!
Wie ich schon früher geschrieben habe: Bayern München wird
immer Meister, wenn sie Spielfreude auf den Rasen mitbringen, und
Schalke litt bis heute immer unter Yips. Nie wird Schalke Meister,
schrieb ich, denn Schalke zerbricht regelmäßig unter den
Erwartungen viel zu glühender Fans. Für dieses eine Jahr
2010 bin ich nicht mehr so sicher. Ihr Trainer Felix Magath hat absolut
kein „…itis“. Schau’n mer mal, München?
Und Real Madrids Mannschaft ist jetzt so irre teuer, dass sie ganz
bestimmt so etwas wie Yips bekommen muss.
Auch wenn wir uns selbst und alle anderen uns mit Erwartungen belasten:
Geben wir einfach unser Bestes und vergessen wir alle Erwartungen
in der Aktion. Oder versuchen wir, uns an dem Gesichtsausdruck bei
der Wendung „freudige Erwartung“ zu orientieren. Es ist
unser Baby, das da entsteht, unser normales Baby, und das ist vollkommen
gut so.