Volkskrankheit Rückgratbruch (Daily Dueck 104, Dezember 2009)

Der Tod eines Torhüters hat uns für Momente wachgerüttelt und berührt. Wir informierten uns einige Tage lang über Depressionen und Selbstmordgedanken. Wir verfolgten die schnell vorgeführten realen Fälle in schnell ausgestrahlten Fernsehsendungen. Danach gingen wir zur Tagesordnung über: Wir beugen uns dem Druck, dem manche von uns leider wohl nicht standhalten. Warum reden wir nicht einmal über den Druck an sich, der unser Rückgrat bricht?

Die Einschläge kommen doch näher – für jeden von uns. Der Druck frisst uns. Bei jedem Selbstmord heißt es hinterher: „Der Druck lastete zu stark.“ Nach jedem Burnout wird diagnostiziert: „Ich versuchte mit aller Kraft, unter übermenschlichen Belastung doch meine Leistung zu bringen. Irgendwann zerbrach etwas in mir, ich konnte nicht mehr.“ Besonders im Management ist es ein wichtiges Thema, wie jeder selbst für sich mit dem Druck umgehen kann und klarkommt. Die meisten geben den Leistungsdruck einfach eine Ebene nach unten weiter. Er kommt heute in vielen Firmen ganz unten an. Ganz unten, meine ich! Nicht nur die rund um die Uhr schuftenden Berater und Manager stehen unter Druck, die das alles noch bewusst für den Hauptgewinn einer Karriere in Kauf nehmen – auch die Reinigungskräfte, Call-Center-Mitarbeiter und Leiharbeiter stöhnen unter der Fron. Der Hauptgewinn ist für sie, die Arbeit behalten zu dürfen. Der Druck ist immer derselbe, ob er nun um des Geldes oder des Lebens willen ausgehalten wird oder werden muss.

Es ist weithin bekannt, dass der Druck zu Depressionen und zu Ausbrennungserscheinungen führt. Das liegt daran, dass Depressionen und Burnouts irgendwann in der Klinik behandelt werden müssen, sehr teuer sind und zu langen Fehlzeiten bei der Arbeit führen, die den Kranken fast aus dem System werfen. Weil ein Betroffener davor Angst hat, geht er aus Angst mit Sicherheit erst dann zum Arzt, wenn der nichts mehr tun kann. Und dann werfen sie ihm alle vor: „Warum hast du so lange nichts gesagt?“
Es ist weithin nicht bekannt, dass der Druck auch anders krank machen kann, nicht nur in der Form der Depression und des Burnouts. Viele Menschen flippen bei der Arbeit aggressiv und teamunfähig aus. Andere haben dauerhaft Angst und trauen sich nicht, Entscheidungen zu treffen oder auch nur halbwegs selbstständig zu arbeiten. Viele werden unterwürfig und fragen den Chef bei jedem Handgriff: „Richtig so, Mama?“ Mindestens demonstrieren sie vollständige Bravheit („Compliance“). Eine andere Variante macht streng Dienst nach Vorschrift und zeigt sich beliebig stur und unflexibel. Insbesondere Techniker igeln sich in der Fachwelt mit ihrem Herrschaftswissen ein und schützen sich mit Unentbehrlichkeit. Im Management zeigen sich zunehmende Sozialphobien und wegen eigener Erfolglosigkeit Tendenzen zu Rücksichtslosigkeit gegenüber den Mitarbeitern („Ich leide unsäglich und soll zusehen, wie ihr Spaß bei der Arbeit habt? Warum arbeitet ihr nicht auch an der Leidensgrenze und erzielt dadurch bessere Ergebnisse, mit denen ich Karriere machen könnte?“). Die Kosten dieser anderen Rückgratbrüche sind doch viel, viel höher für die Unternehmen als die der Burnouts und der Depressionen, die ja der Krankenkasse übergeben werden! Was sind die Kosten von Angst, Misstrauen, Vermeidungsstrategien, Sadismus, Unterwürfigkeit oder passiven Widerstandes? Die sind so sehr viel dauerhaft größer als alles, was wir denken, dass wir in einem ungeheuren ökonomischen Suboptimum leben, da bin ich sicher.

Es gibt viele Ratschläge, wie mit dem Druck umgegangen werden soll. „Man muss ein dickes Fell bekommen.“ – „Du darfst es nicht an dich selbst herankommen lassen.“ – „Du darfst als persönliche Erniedrigung wahrgenommene Quälerei nicht persönlich nehmen, es ist nur eine bewährte Manage-ment-Technik, die dir widerfährt, mehr nicht.“ – „Der Druck ist der Preis für deine große Chance, den muss jeder willig bezahlen.“ – „Ohne Druck geschieht nun mal nichts.“

Geht ohne Druck nichts? Gab es den beim Aufbau des Wirtschaftswunders Deutschland? Der Druck ist eine Spätfolge übertriebenen Behaviorismus. Die Behavioristen glauben, den Menschen über Anreize beliebig steuern zu können – also ausschließlich über extrinsische Motivation. Lob und Tadel müssen nach ihren Lehren so gesetzt werden, dass der Mensch tut, was er soll. Diese Ansätze haben eine Zeit lang ganz gut funktioniert, bis man mehr und mehr Lob und Belohnung weggelassen hat und fast ausschließlich mit Tadel, Druck und Drohung arbeitet. Man fordert einfach mehr, als der Mensch leisten kann und tadelt ihn nun immerfort. Denn auch die Anreizsetzer stehen ja als Menschen selbst unter dem übergroßen Druck. Deshalb setzen sie die Anreize nicht mehr nach der reinen Lehre der Wissenschaft, sondern sie setzen sie schon als selbst Rückgratgebrochene!

Die Behavioristen schenken uns also dieses Leiden:

• Sie stellen Instrumente zur Druckerzeugung bereit, die man Management-Technik nennt.
• Sie geben Kurse für Mitarbeiter und Manager, wie man mit dem Druck fertig wird, indem man ihn besser nicht so ernst nimmt und ihn dadurch neutralisiert.
• Sie gehen davon aus, dass die Anreize nach zielrichtiger Vernunft gesetzt werden, nicht aber von selbst Leidenden.

Wir sollen also leiden, damit wir gut arbeiten. Aber wir sollen nicht leiden, weil das das Arbeitsergebnis verschlechtert. Gradlinig gebrochen?
Wieso reden wir so selbstverständlich über den „unmenschlichen Druck“? Wer kann das denn so selbstverständlich? Jeder, in dem schon etwas brach?

Ein Ruck müsste zu Weihnachten durch uns gehen – und wir sollten einfach nur noch gut arbeiten wollen, einfach so. Denken Sie dabei noch an das vorige DD? An das rituelle Management? Bitte fangen Sie nicht an, dieses Problem des Drucks mit dem Vorgehen des rituellen Managements anzugehen. Das Rituelle, auch das zu Weihnachten, lindert nur das chronische Leiden. Das sollte uns nicht genügen.

Gunter Dueck

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