Links im Sinnraum
Rituelles Management (Daily Dueck 103, November 2009)
Rituale kennen wir bewusst vor allem aus dem geistlichen Bereich. In weihevollen Zeremonien werden Menschlichkeit, Frieden und Entsagung beschworen. Die Anwesenden bekennen sich feierlich zu hehren Werten und verpflichten sich zur vorbildhaften Weitergabe und zur Umerziehung aller noch Ungläubigen. Diese Events erbauen die Seelen aller Teilnehmer, aber am nächsten Tage geschieht nichts unter den Ungläubigen, die deshalb höhnen: „Nach jedem Bußgang immer sofort wieder grauer Alltag? Gibt es denn prinzipiell überhaupt Glauben – wenigstens irgendwo unter euch?“ Im Management registrieren wir so etwas gleichermaßen, ohne dass uns das Rituelle bewusst ist: Man beschwört Vertrauen, Kundenbefriedigung oder Mitarbeiter-Wellness – ohne dass viel geschieht. Darüber entrüsten sich viele. Aber! Rituale verändern doch nicht, sie lindern den chronischen Schmerz.
Im wirklichen Leben herrscht Leiden und Schmerz. Die meisten halten das Leiden einfach aus und jammern die ganze Zeit. Nur wenige wollen es ernsthaft beenden. Andere versuchen wenigstens, es zu beenden, und wieder andere tun so, als wollten sie es beenden, damit die Kritik an ihrem leidenden Zustand endet. Wir sehen diese verschiedenen Herangehensweisen:
• Die Leidenden schaffen sich Erleichterung durch Klagen über
das Problem ohne wirkliche Hoffnung oder Willen, es lösen zu
können oder zu wollen – wenigstens ausweinen muss man sich
doch! Sie fühlen sich dem Leiden gegenüber ohnmächtig,
eine Lösung steht außerhalb ihrer Macht oder subjektiven
Kraft.
• Die Leidenden sind für sich bereit oder bringen die Gesamtheit
dazu, das Problem mit einigem guten Willen angehen zu wollen. Sie
wollen mit einem ersten Schritt in die richtige Richtung demonstrieren,
dass etwas getan wird. Als Auftakt wird feierlich ein Grundstein gelegt.
• Die Leidenden werden wegen ihres Leidens oder wegen ihres
Jammerns über ihr Leiden so stark kritisiert, dass sie einen
guten Willen demonstrieren müssen, ihr Problem zu lösen.
• Die Leidenden lösen das Problem grundlegend.
Diese Erscheinungsformen des Umgangs mit dem Leiden sehen wir überall.
„Ich bin übergewichtig, ach je! Ich esse so wenig, ach
je!“ (Jammern in gefühlter Ohnmacht) – „Ich
will es doch wieder einmal mit einer Diät versuchen, ich habe
eine gefunden, bei der man so viel essen kann, wie man möchte.
Ich freue mich schon, wie attraktiv ich aussehen werde.“ (Guter
Wille) – „Ich habe ihr versprochen, weniger zu essen –
das tue ich auch in ihrer Gegenwart, sonst will sie noch, dass ich
beim Fernsehen kein Bier mehr trinke.“ Und wie löst man
das Problem? Man verändert seine Ernährung von Grund auf
– man isst zum Beispiel die Hälfte so lange, bis man nur
noch die Hälfte wiegt und dann wieder mit der Hälfte des
Essens satt wird.
Noch ein Durchgang zur Erhellung? „Ich schaffe die Schule nicht,
ich bin wohl zu dumm – aber doch ein Mensch! Sie dürfen
mich nicht so behandeln, als wäre ich faul. Ich kann nichts dafür!“
– „Ich versuche Nachhilfestunden, da komme ich bestimmt
auf eine Vier und habe nicht so viel Stress. Wenn ich Glück habe,
erklärt es mir einer so gut, dass ich gleich auf eine Zwei komme,
dann muss ich gar nicht mehr so viel arbeiten.“ – „Ich
gehe jetzt zu den Nachhilfestunden. Das hilft eh nichts, weil ich
keinen Bock habe, aber meine Eltern haben das Gefühl, dass alles
getan wird, was getan werden kann.“
Leidende Menschen dürfen jammern, aber Manager nicht. Manager sollen handeln und nicht klagen. Der Starke setzt um, er löst die Probleme. Für Manager ist das Jammern eine Schande. Da sie sich für die eigentlich wertvollen Menschen halten, hassen sie das Jammern der Mitarbeiter als Schwäche oder Zeichen untätiger Minderleistung. Sie verbieten das Jammern und belegen es mit Bannflüchen. Sie halten das Jammern auch für eine Kritik an den beklagenswerten Zuständen und damit für eine Kritik am Management selbst. Die nehmen sie nicht hin. Darüber hinaus beobachten sie genau, wie das Jammern die Menschen erleichtert. Diese Erleichterung versperrt den Willen, die Ursachen des Leidens zu beseitigen. Das aber fordern sie von den Mitarbeitern. Die Mitarbeiter dagegen klagen die Manager wegen der Missstände an. Die aber fühlen sich ohnmächtig gegenüber der schlechten Wirtschaftslage oder der mangelnden Fortune. Darüber dürfen sie nicht jammern, weil sie Manager sind. Im Endeffekt darf niemand jammern.
Deshalb muss etwas getan werden. Die Mitarbeiter und Manager beginnen, guten Willen zu bekommen, oder sie entschließen sich, guten Willen zu zeigen, obwohl sie eigentlich keinen haben. Manche preschen vor, guten Willen sehr deutlich zu demonstrieren, damit sie als Vorbild befördert werden; viele aber sind wirklich gutwillig, an den Problemen zu arbeiten. Eine winzige Minderheit nur versteht das Problem in voller Tiefe und versucht, die Gesamtheit zur wirklichen Lösung zu führen.
Sie starten mit Meetings zur Bildung von Gemeinsamkeit. Externe Moderatoren öffnen den Moderatorenkoffer mit seinem Arsenal von Ritualen für guten Willen. Brainstorming, Diskussionen, Flipcharts, farbige Aufkleber und fröhlich-erstaunliche Übungen wecken das Gute in den Menschen. Sie suchen nach einer Grundsteinlegung für ein besseres Leben. Viele blühen unter dem guten Willen auf – wie kurz in der Kirche beim Appell des Predigers an das Bessere im Menschen. Andere sind widerwillig, fühlen sich aber in der Atmosphäre geröteter Wangen gezwungen, ihren guten Willen zu zeigen. Es sind die, die schon den morgigen Tag des grauen Alltags kennen, meist die Älteren, die schon so oft guten Willen gezeigt haben. In den Meetings beschließen sie Aktionen und verpflichten sich. Sie committen sich und schwören sich auf das Ende des Leidens ein. Sie wollen sofort beginnen, das Leiden einzudämmen. Einige, die wissen, dass das Leiden nur unter einer langen, nachhaltigen Radikalkur beendet werden kann, werden als griesgrämig und skeptisch in die Ecke gestellt. „Wir wollen schnelle Erfolge sehen! Wir wollen den Schwung des heutigen Tages mitnehmen!“
Was kommt heraus? Ein Grundstein. Eine Diät. Eine Nachhilfestunde. Guter Wille, wieder einmal wenigstens etwas Sichtbares zu tun. Ein Pflaster draufkleben. Frauen sind benachteiligt – man setzt eine Beauftragte ein. Das Unternehmen deckt Korruption auf. Man ernennt einen Ehrlichkeitskommissar und verklagt einen Pensionär. Die Buchführung hat Lücken. Man setzt einen Auditor ein. Das Unternehmen zeigt sich rau gegenüber Menschen. Ein Manager für Corporate Social Responsibility erscheint. Diese eine oder dieser eine ist der Grundstein! Dieser Grundstein wird sogleich als Richtfest gefeiert, als wäre ein Grundstein schon drei Viertel des Ganzen. Alle jubeln über den Grundstein, den sie mit dem Richtfest verwechseln. Sie sind heilfroh, dass das gigantische Problem in einem einzigen Handstreich gelöst ist, ohne dass sie selbst etwas dazu tun müssen. „Der Beauftragte macht es. Der schafft das allein.“ Er wird es richten. Er wird uns Gewicht abnehmen lassen oder Nachhilfe geben. Alles wird gut. Im Buch Direkt-Karriere haben ich dieses Vorgehen „Vipisierung“ genannt, wie VP = Vice President. Man setzt einen Vice President ein, der das Problem löst. Alle freuen sich. Der gute Wille ist in eine Person, eine Task Force oder eine Institution gegossen. Die, die guten Willens sind, freuen sich. Die, die guten Willen zeigen wollten oder mussten, freuen sich – die Kritik, dass nichts getan wird, ist vom Tisch. Jetzt geschieht etwas! Der VP wird es richten.
Die Falltür öffnet sich. Alles geht den Bach hinunter.
Das ist nicht bekannt.
Der VP weiß es jedenfalls nicht, er ist stolz, dass er das allgemeine
Problem lösen soll und versucht es ehrlich damit. Er kommt schnell
darauf, dass er das allein nicht kann, er braucht die Mitwirkung aller.
Die bekommt er nicht, denn er wird fürstlich bezahlt, dass er
„hinweg nimmt die Sünde der Welt und gibt ihr ihren Frieden“.
Als einzelner kann er Sünden aufzeigen und brandmarken –
zum Beispiel die Frauenbeauftragte ein männliches Unrecht oder
der Compliance Officer unerlaubte Abweichungen. Mehr kann er nicht!
Und er erkennt langsam, dass er eigentlich die Kultur grundlegend
verändern müsste – das Verhalten aller! Haben nicht
viele Weise immer ungehört gesagt: „Innovation, Gerechtigkeit,
Gleichheit, Ehrlichkeit, Qualitätsbewusstsein, Kundenservice
(etc. etc.) ist eine Kultur, keine Abteilung.“ Das sagten schon
immer die, die das Problem ganz lösen wollten. Der VP merkt,
dass es stimmt. Er ist allein. Er verzweifelt, weil er nichts bewegt.
Er jammert verzweifelt, dass nichts geschieht, und wird wie ein Pfarrer
in Sodom – so leidenschaftlich appellativ und doch so ohnmächtig.
Da sagen ihm alle, dass sie ihn extra dafür befördert haben,
damit er das Problem lösen sollte! Es ist sein Job! Und sie fragen
ihn immer bohrender, was er „konkret“ erreicht hat. Er
beginnt inhaltlose Phrasen zu dreschen, wie alle seine Vorgänger.
„Wir haben sehr konkrete Aktionen aufgesetzt. Wir wissen jetzt,
was zu tun ist. Die Richtung stimmt. Ich brauche nur noch das Commitment
aller, vor allem des Topmanagements. Das Denken muss sich ändern,
das Verhalten natürlich auch. Es winkt eine rosige Zukunft. Der
Weg ist nicht leicht, wir sind noch lange nicht da, wir sind aber
unterwegs, das ist die Hauptsache. Wir schaffen es nur gemeinsam.
Jeder ist aufgerufen …“
Und da sehen alle, auch er selbst, dass er das Problem selbst geworden ist. „Der Nachhilfelehrer erklärt nicht gut. Weg mit ihm!“ – „Die Diät macht eher dicker! Betrug!“ – „Der Sheriff hat unsere Verbrechen nicht verhindert! Ein neuer muss her!“ Die Falltür öffnet sich, der VP versinkt. Ein paar Monate vergehen, da denkt man über Meetings nach, wie man diesmal doch Besserung erzielen könnte – denn viele jammern wieder. Das ist eine Schande. Und sie werden das Problem endlos mit dem Moderatorenkoffer und den Brainstorminglisten einsalben und dann vipisieren – bis dereinst (das kommt alle Jahrhunderte vor) einmal ein Einzelmensch wie ein Kennedy oder ein Gandhi wirklich die Kultur verändern kann.
Diese Ausnahmen sind der Grund, dass es immer wieder millionenfach mit dieser Art rituellem Management versucht wird – ohne einen Gandhi, aber immer mit einem VP oder einer Beauftragten.
Es wird nicht verstanden, dass es meist nicht reicht, guten Willen
zu zeigen. Guter Wille hilft sehr gut bei normalen Problemen, aber
sicher nicht bei solchen, über die schon lange gejammert wurde.
Die hat man ja doch so lange schwer ertragen! Glaubt jemand, man könnte
sie so einfach lösen – sogar noch mit Freude und ohne Blut
und Schweiß?
Ja, doch, das glauben so viele, weil es einfacher ist – und
weil der VP oder der Moderator vielleicht doch ein Gandhi ist.
Ach, und stellen Sie sich vor, es wäre Frieden! Dann würden
die Soldaten den Arbeitsplatz verlieren. Stellen Sie sich vor, alle
würden gut und ehrlich arbeiten! Ganze Zweige der Besserungsindustrie
fielen weg! Keine Nachhilfe-Consultants, keine Vitaminpillen, keine
Diäten, keine Sünder – ja, was bliebe dann noch übrig?