Links im Sinnraum
Was zuerst reizt, reizt später sehr (Oktober 2009)
Ein ruhiger Mann heiratet eine Frau, die ihn durch ihre Lebensfreude und Energie anzieht. Sie berauscht ihn, er aber ist für sie der ruhende Pol. Die Jahre vergehen, da findet er sie hektisch und sie ihn lahm. Nun bahnt sich eine Katastrophe an. Was wir im Leben zu Hause sehen, kehrt als allgemeines Motiv überall wieder. Der falsche Umgang miteinander in solchen Situationen zerstört einen großen Teil unser aller Leben.
Der ruhige Mann liebt seine Frau, weil sie Dinge in Schwung bringt,
die er nicht von selbst anfangen würde. Er bewundert sie rückhaltlos,
wie sie mit Problemen und Widerständen fertig wird. Sie dagegen
fängt eigentlich immer viel zu viel auf einmal an und erwartet
zu viel. Sie ist dankbar, wenn sie ihr Mann etwas dämpft und
sie auf den realen Teppich zurückholt. Denn wenn sie eigentlich
fliegen will, sieht er sie eigentlich eher schwimmen.
Die Jahre vergehen, da werden Sie ihrer Rollenverteilung überdrüssig.
Die Frau findet, ihr Mann hemmt sie zu sehr. Er könnte doch auch
einmal etwas von selbst beginnen! Warum schlägt regelmäßig
nur sie vor, wo sie den Urlaub verbringen? Warum stößt
ausgerechnet sie den Kauf eines neuen Autos an? Immer öfter kommt
ihr der Gedanke, dass sie selbst alle Arbeit macht. Sie kritisiert
ihren Mann jetzt öfter, er sei energielos und solle selbst etwas
tun. Er hat in den Jahren gelernt, das abzuarbeiten, was sie angefangen
hat. Er kauft das Auto zwar nicht, aber er wäscht es ja, wenn
sie will, und er bringt es zur Inspektion, wenn sie es anmahnt. Er
findet, dass er – bei Lichte besehen – fast alle Arbeit
selbst klaglos wie ein Pflugochse verrichtet. Er hat ihr die Freude
gelassen, neue Vorhaben anzustoßen. Dann hat er alles Nötige
im Hintergrund für sie getan. Die Kritik sieht er nicht ein und
sie kränkt ihn tief. Angesichts seiner ruhigen, nachhaltigen
Arbeit, die durch die Kritik indirekt herabgewürdigt wird, wird
ihm subjektiv langsam klar, dass er ohne Ehe und Liebe besehen eigentlich
ihr Diener oder gar Sklave geworden ist – und zwar einer mit
einem undankbaren Herrn. Er versucht, aus der Rolle zu entkommen und
beginnt nun selbst, etwas Neues vorzuschlagen, damit sie die Energie
in ihm würdigt. Er sagt nun, er will in einem neulich entdeckten
Restaurant mit ihr essen. Das sticht sie leider sehr, sie ist es nicht
gewohnt, auf seine Vorschläge einzugehen. Übernimmt er die
Kontrolle? Sie hasst es, dass sie plötzlich nicht bestimmen soll
– sie schimpft also mit ihm und lehnt alles ab, was er von sich
aus will.
Das geht eine Weile. Seine Versuche werden abgeschmettert. Sie freut
sich gar nicht, wenn er Energie entwickelt, sie behandelt es wie Auflehnung,
fährt aber fort, ihn wegen Energielosigkeit anzuklagen. Sie bezeichnet
ihn jetzt als faul und lahm und hält sich für den einzigen
verbliebenen Eckpfeiler der Ehe. Er findet sie herrisch und überkritisch
– ihm gegenüber als treuer, liebender Partner. Er murrt
und träumt von anderen Frauen. Sie giftet und träumt von
anderen Männern. Er wollte doch eine starke Frau! Sie wollte
doch einen ruhigen Mann! Jetzt träumen sie vom Gegenteil, aber
sie wollen eigentlich nur, dass es wie früher ist – als
das Verschiedene noch einen Wert für sie hatte. Jetzt aber führt
es zur Scheidung.
Sehen wir uns diese Abwärtskatastrophe woanders an.
Nach welchen Kriterien werden Manager eingestellt? Sie sollen voller
Energie sein – die ist ziemlich rar, denn nur wenige haben viel
davon. Manager sollen sich durchsetzen können, leiten und Menschen
führen. Sie sollen Biss haben und das Ziel erreichen. Die Mitarbeiter
helfen dabei als treue Diener.
Verstehen Sie, was ich sagen will? Graut es Sie schon vor dem, was
Sie jetzt lesen müssen? Muss ich weiter schreiben, bis Ihnen
schlecht wird?
Der Manager ist stolz auf seine Energie. Er bekommt dafür ein
besseres Gehalt als die ruhigen Mitarbeiter. Es gibt Zeiten, da geht
es der Wirtschaft schlecht. Da geht er an die Grenze seiner Möglichkeiten.
In seiner beginnenden Verzweiflung, die Ziele nicht zu erreichen,
schaut er immer öfter um Hilfe suchend auf seine Mitarbeiter,
die ruhig wie immer treu und ergeben für ihn schuften. Er findet
nun, sie könnten mehr tun! Sie könnten neue Projekte vorschlagen
und übernehmen, neue Kunden bringen und alten nebenbei etwas
verkaufen. Das muss doch gehen! Warum ist er eigentlich allein für
alles verantwortlich? Warum er allein?
Darauf war er am Anfang stolz – allein verantwortlich zu sein
und treue Mitarbeiter zu haben. Nun macht es ihn böse und er
findet in dieser Stimmung die Mitarbeiter schlapp und lahm, ja sogar
faul. Das sagt er ihnen gerade heraus oder „ehrlich“,
wie er es nennt und auch empfindet. Die Mitarbeiter aber, die alle
Tage für ihn schuften, werden nun böse und weisen ihn darauf
hin, dass er aus Ungeduld zu viele Projekte beginnt und nicht alle
durchziehen kann. Sie schimpfen direkt und noch mehr allein in der
Kaffeepause unter sich, dass der Chef böse, überkritisch
und überfordernd ist. Und das, obwohl sie treu arbeiten. Um nicht
im Hagel von Beschimpfungen unterzugehen, machen die Arbeiter ab und
zu etwas von selbst oder schlagen neue Projekte vor. Der Manager ist
Kritik nicht gewohnt. Tief im Unterbewusstsein weiß er, dass
nur Manager „ehrlich“ sein sollten, keinesfalls Mitarbeiter,
die ihn ja dann durch ihre Ehrlichkeit kritisieren. Im Unterbewusstsein
will er ja ehrliche Mitarbeiter, aber sie dürfen nicht wirklich
ehrlich ihm gegenüber sein! Wenn also die Mitarbeiter nun selbst
Projektvorschläge machen, sieht er es als verkappte Kritik oder
am Stuhl sägende Ehrlichkeit. Er drischt nun härter auf
alle ein, sie sollten nicht denken, sondern arbeiten – ja und
eigentlich müssten sie verantwortlicher sein.
Das zerreißt die Mitarbeiter, sie arbeiten nun verbissen stur,
wie ihnen gesagt wird und denken nur noch leise für sich. Der
Manager sieht nun, dass er als einziger wirklich arbeitet und wütet
noch stärker.
Am Anfang wollten die Mitarbeiter einen energiereichen Chef, der sie
führt. Am Anfang wollte der Chef treue Mitarbeiter, die brav
schuften. Jetzt träumt der Chef, dass er sie feuert. Jetzt suchen
die Mitarbeiter in innerer Kündigung eine neue Stelle …
Das, was gut ist, darf nicht zuviel werden. Was zuviel werden will, fordert immer von anderen, dass das, was zuviel werden soll, auch in andern viel wird … Aber das, was zu viel werden will, will dies auch aus Machtgier und aus Eitelkeit. Deshalb will es eigentlich nicht, dass das, was zuviel werden soll, auch in anderen viel wird.
Sehen Sie sich um! Ist jemand bei Ihnen zu Hause gar zu reinlich?
Der möchte zuviel Sauberkeit und fordert mehr Penibilität
auch in den anderen. Die machen erst gutwillig mit, werden weiterhin
getadelt und leisten passiven Widerstand. Ein Wortkrieg bricht aus,
der die Welt sauber in „Drecksäue“ und „Putzteufel“
trennt.
Sehen Sie sich um! Ist da einer, der gescheiter ist als alle anderen
und irgendwann will, dass alle gescheit wären, nicht nur er allein?
Sie machen ein bisschen mit, werden aber weiter für dumm gehalten.
Da trennt sich die Welt in Halbidioten und Klugscheißer…
Das, was zuviel werden will, will eigentlich nicht zuviel werden. Es will von den anderen auf einen immer höheren Thron gehoben werden. Das wird nicht verstanden. Nirgendwo!
Der Mann rettet die Ehe, wenn er die Frau immer mehr wegen ihrer Energie lobt. Die Mitarbeiter retten sich, wenn sie den Chef immerfort anbeten und Gehaltserhöhungen für ihn fordern. Die Bewohner müssen die Sauberkeit jeden Tag laut als angenehm hervorheben und die Dummen den Gescheiten immer um Rat fragen und bewundern. Dadurch bleibt das, was zuviel werden will, immer gleich – aber es wird auf einer immer höheren Thron gehoben. Damit ist es zufrieden und gibt Ruhe.
Ja, aber wollen wir Ruhepole, Mitarbeiter, Schmutzfinken und Dummköpfe das so machen? Ach, es müsste immer so bleiben, wie es in einer halb verliebten Stimmung begann. Wir müssten verstehen, dass die Wertschätzung bestehen bleiben muss.
Und jetzt denken Sie noch kurz an den berühmten Sketch von Loriot,
wo die nervös hin und her werkelnde Frau in der Küche immer
wieder den im Wohnzimmer sitzenden Gatten auffordert, doch etwas zu
unternehmen. „Hermann, was machst du da?“ – „Nichts.“
– „Nichts?“ – „Nein, nichts, ich sitze
hier!“ und beteuert ohne Erfolg viele Male: „Ich möchte
hier sitzen!“ – „Tu doch, was dir Spaß macht!
Hol doch eine Illustrierte!“ – „Ich will hier einfach
nur sitzen.“ Das ist die amüsanteste Version der selbstironischen
endgültigen Resignation. Ich habe bei Google „Youtube Frau
sitzen“ eingegeben und das Wort „Loriot“ vergessen
– und trotzdem war der gesuchte Link auf Platz eins. Schauen
Sie einmal? Drei Minuten, 24 Sekunden. Ist das bei Ihnen zu Hause
auch so? Oder im Büro?