Links im Sinnraum
Fahrlässige oder vorsätzliche Seelenverletzung – Psychozid (Daily Dueck 5)
Wer ist verantwortlich? „Mein Kind ist missraten.“ – „Der gute Mitarbeiter hat sich überraschend schlecht entwickelt.“ – „Wir haben über sie gelacht, sie ist so wahnsinnig fett.“ – „Ich betrüge dich schon seit Jahren und du blöder Hund merkst nichts. Jetzt habe ich dich ganz satt.“ – „Ach Kind, du wirst einmal schwer eine Frau finden. Du bist klein.“
Ich bin 1.69 m. Genau so groß wie der kleine Littbarski, der trotzdem Fußball spielt. Mir haben sie das gesagt. Ich war ganz hoffnungslos. Ich dachte traurig an einen Witz vom Zwerg, der die blonde Riesin heiratete und zu Beginn der ersten Nacht um das Bett herum tanzte und in die Hände klatschte. „Mir! Mir! Das alles gehört mir!“ Ich begann als Junge, Mädchen nach ihrer Größe zu beurteilen. Bei der Bundeswehr musste ich immer als Zweitletzter beim Antreten stehen, nur so sah es schön aus. „Ach Kind, du bist klein.“ Das ist eine schwere Seelenverletzung gewesen. Fahrlässig? Bestimmt – vorsätzlich war sie nicht. Zum Mittelball des Tanzkurses hatte ich ein Mädchen, das etwas kleiner war. Ich liebte aber ein anderes sehr, das war 1.71 m. Es hatte kurz vor dem Ball „keinen Herrn“, da wurde hektisch noch einer gesucht und besorgt. Ich weinte die ganze Nacht. Nach dem Ball sagte mir jemand aus meiner Familie lächelnd: „Du tanzt hölzern wie ein Mathematiker.“ Das streckte mich nieder. Meine Frau würde heute so gerne mit mir tanzen. Ich kann aber nicht. Es sitzt in mir fest. Erlernte Hilflosig-keit. War das fahrlässig oder vorsätzlich? Ich denke, es ist, wie wenn ein Kannibale nach Heidelberg kommt, ein Kind erschlägt und isst, weil er es so gewohnt isst.
In meinem Buch Topothesie habe ich für Seelenverletzungen das
Wort Psychozid benutzt, analog zum Wort Mentizid („Erzwingen
erwünschter Denkweisen durch seelische Folter“), das es
schon gibt. Mentizid ist Absicht. Umerziehung. Verhaltensänderung!
Psychozid ist die größte Sünde des Menschen, die aber
nicht bekannt ist, weil uns irgendwie die Wahrnehmung verletzter Seelen
fehlt. Wir sehen schon, dass jemand zusammenzuckt und leidet, aber
wir verstehen die Tiefe des Leidens nicht. Wir halten für „normal“,
was schon kriminell ist.
„Schon wieder Null Punkte für Stefan, unseren Musterschüler!“
– „Was leisten Sie eigentlich für unsere Firma? Schon
innerlich gekündigt?“ – „Sie sind nun schon
zwei Jahre in Therapie, es muss jetzt langsam etwas werden!“
Seligman berichtet in seinem Buch Erlernte Hilflosigkeit über Experimente mit Ratten. Man lässt sie in einem Bottich schwimmen, bis sie ersaufen und stoppt die Zeit. 60 Stunden. Stunden! Nun nimmt man wieder eine neue unverbrauchte Ratte in die Hand. Sie zappelt verzweifelt und zappelt und zappelt. Nach einigen Minuten lässt sie nach, gibt auf und reagiert nicht mehr. Still. Dann setzt man sie in den Wasserbottich. Kaum eine Ratte schwimmt so länger als 30 Minuten, manche sterben schon in der Hand vor Angst. Sie in der Hand halten, bis sie ruhig sind, ist wie Vergewaltigen für Ratten. Das verstehen wir alle. Wäre es aber eine vergewaltigte Frau, würden wir uns wundern, warum sie so klaglos im Leben untergeht. Ein vergewaltigender Mann wird sozusagen für das „Festhalten“ bestraft, nicht für den Zustand danach. Nicht für den Seelentod.
Mütter! Väter! Lehrer! Bosse! Offiziere! Wissen Sie, was
Sie tun? Was Sie gesunde Härte nennen würden, ist in vielen
Fällen Psychozid. Fahrlässig? Vorsätzlich? Nein, es
ist meist die Unkenntnis, dass es auf dieser Welt mehr als eine Seele
gibt, die eigene. Ich habe schon öfter einmal in geselligen Runden
diskutiert, ob das Kind misslingt oder verdorben wird. Ob der Mitarbeiter
unfähig ist oder stumpf gemacht. Ob der Schüler rein gar
nichts kann oder nur verletzt wurde. Da werden die Mächtigen
sehr böse und fauchen mich an. „Kann ich etwas dafür?“
Wer denn? Insbesondere Mütter haben mich schon angebrüllt,
weil ich meinte, sie wären für die Kinder verantwortlich,
sie hätten ja lange Macht über Leben und Tod gehabt. „Wir
haben unser Bestes getan!“ Alle dieselben Väter und Mütter
sind vorher beim Diskutieren beim Kaffee über alle Nachbarn hergezogen.
Sie stellten fest, dass die Nachbarn schlecht erzögen und lausige
Eltern seien.
Eltern sonnen sich im Erfolg ihrer Kinder, Lehrer sind stolz auf die
guten Noten, Manager werden für gute Zahlen befördert. Das
waren sie, sie ganz allein! „The Power Takes the Credit.“
Und am Misserfolg sind die Kinder und kleinen Leute selbst Schuld.
Wenn man Schülern immer fünf normale und fünf sehr
schwere Aufgaben gibt, geben sie innerlich auf und schaffen mit der
Zeit nichts mehr. Sie sehen ihr Versagen im Lehrer. Gibt ihnen dann
ein anderer Lehrer zehn normale Aufgaben, schaffen sie alle (siehe
bei Seligman), insbesondere auch die fünf normalen, die sie beim
„Lehrer mit unfairen Aufgaben“ nicht lösen konnten.
Ach, du liebe Schulzeit…
Wenn man Hunde mit Stromschlägen eine Stunde traktiert, sind
sie für zwei Tage hilflos und apathisch. Dann erholen sie sich
wieder. Wenn man sie aber an zwanzig Tagen hintereinander je eine
Stunde traktiert, bleibt es in ihnen sitzen. Sie bleiben apathisch.
Wie ruhige Schüler. Wie maschinisierte Soldaten. Wie Ausführungsorgane.
Ist es ist nicht so, dass wir uns am liebsten Untergebene vorstellen
wie Ratten in unserer Hand, die aber trotzdem 60 Stunden schwimmen?
Dass wir die Ruhe wollen und die Hochleistung dazu? Für die Disziplinierung
sieht sich die Macht in der Verantwortung. Für die Leistung muss
der Untertan geradestehen. So sind die Rollen verteilt. Die Macht
formt unsere Seele, indem sie sie machtvoll motiviert.
Ich habe mit mir angefangen. Ich bin verletzte 1.69 m, es ist aber
schon geheilt. Im Fernsehen lassen sich gerade Frauen mit nur durchschnittlichen
Brüsten neu zuschneiden. Sie mögen sich nicht.
Und was geschah Ihnen? Was tun Sie?
Wollen wir uns nicht bemühen, Psychozide zu erkennen? Anzuklagen?
Im Grunde müsste das Seelenverletzen ins Strafgesetzbuch. „Demütigung.“
– „Mobbing.“ – „Überraschende Kündigung.“
Ja, selbst eine unangekündigte Klassenarbeit oder nur die Macht
dazu ist Seelenverletzung, das wissen wir alle, auch die Lehrer, die
Revisoren, die Prüfer. „Wie potentielle Verbrecher!“,
wimmern innerlich die Unschuldigen hilflos.
Es ist unser System.
(…und etwas Leichteres beim nächsten Mal…so geht es ja nicht weiter…)