Erlernte Phantasielosigkeit (Daily Dueck 3)

Susanne Seffner (www.seffner-personal.de) verwendete in einer längeren Mail an mich die Worte †"erlernte Phantasielosigkeit in der Gegenwart". Da saß ich vor dem Computer, zog die Augenbrauen zusammen und stützte meine Hand unter das Kinn, so wie Walter von der Vogelweide auf dem berühmten Bild. †Ich hete in mine hand gesmogen, daz kinne und wine wange. Sie wissen schon, so beginnen die wichtigen Gedanken †wie man zer welte solte leben.

Eines der ganz großen Bücher der Sozialwissenschaften ist Learned Helplessness oder Erlernte Hilflosigkeit. Martin Seligman wurde mit einem Experiment und diesem Buch berühmt, obwohl einem die Hunde echt Leid tun, wenn man zum Beispiel schon in Rente ist oder noch nicht im Arbeitsleben ist. Angeschirrte Hunde bekommen Stromstöße, die ihnen kurz vorher durch ein Signal angekündigt wer-den. Sie werden so lange traktiert, bis sie sich schließlich nach jedem Signal leise winselnd in ihr Schicksal ergeben. Sie kauern nur noch da und zittern unter dem Strom. Sobald sie nach vielen Durchgängen ganz hilflos geworden sind, bringt ihnen der Versuchleiter bei, dass sie sich bei Stromschlägen durch den Sprung ™ber eine Wand in einen anderen Käfig retten können.

Es zeigt sich, dass sie das schwer oder gar nicht mehr lernen. Sie sind so hilflos geworden, dass sie keine Anstrengungen mehr machen, auch wenn es neuerdings einen Ausweg geben könnte. Sie haben die Hilflosigkeit dauerhaft adaptiert. Sie glauben an kein Entrinnen mehr. Normale Hunde dagegen, die noch nicht auf Hilflosigkeit getrimmt worden sind, erlernen den rettenden Sprung sehr schnell! Seligman erklärte aus diesen Erkenntnissen heraus, dass eine gefühlte Ohnmacht gegenüber einem beherrschenden Übel so hilflos macht, dass nicht mehr nach Auswegen gesucht wird, auch wenn dem Hilflosen die Auswege immer wieder vor Augen geführt werden. Der Hilflose ist apathisch und depressiv geworden. Er ist in einem dunklen Zustand des selbst wahrgenommenen Kontrollverlustes angekommen, in dem †nichts mehr hilft "und alles †keinen Zweck mehr" hat.

Menschen aber sind bekanntlich nicht Hunde.

Deshalb stellte man nach 1975 neue Experimente mit Menschen an, wahrscheinlich ganz ohne auf die jahrtausende alten Erfahrungen der Geheimdienste zurückzugreifen. Wir kennen sie doch, die Gebro-chenen, die wir aus der Folter befreiten. †"Du bist wieder frei!", rufen wir, die Gesunden, ihnen glücklich zu und umarmen sie, aber sie schauen stumpf. Es stellte sich bei Menschenexperimenten heraus, dass manche Teilnehmer tatsächlich apathisch blieben, andere aber schnell den angebotenen Ausweg erlernten. Menschen sind eben doch nicht wie Hunde! Oder jedenfalls manche von ihnen nicht? Martin Seligmans Theorie wankte, bis L. Y. Abramson herausfand, dass sich Menschen jeweils verschieden verhalten, je nachdem, wie sie sich in der Problemsituation ihre eigene Ohnmacht selbst erklären. Apa-thisch werden diejenigen Menschen, die sich selbst in ein "Nichts geht mehr"-Dunkel versinken lassen. Es gibt andere, die auch in grässlichsten Notlagen denken: "Im Augenblick kann ich nichts tun, ich muss ausharren und geduldig auf eine Lösung warten." Wenn diesen Menschen ein Ausweg gezeigt wird, freuen sie sich, dass die Zeit des Leidens vorbei ist!

Seitdem gibt es eine Menge Bücher über Learned Optimism. †"Sei voller Zuversicht! Es ist nicht sicher, dass du noch sechs Jahre arbeitslos sein musst!" - "Wer immer an sich glaubt, geht nicht unter!" Sie kennen das sicher.

Das fiel mir ein, als Susanne Seffner schrieb. Mir fielen Menschenversuche ein, bei denen Menschen Aufgaben lösen sollten, für die es keine Lösung gab. Manche erkannten das, andere wurden depressiv, weil sie sich als Versager fühlten. Wir sind oft in Situationen, in denen wir das Gefühl haben, keine Kontrolle mehr über unser Schicksal zu haben. Die Schule fällt uns über dem Kopf zusammen. Die Eltern lassen sich scheiden. Der Chef macht Andeutungen, mindestens die Low Performer entlassen zu wollen - oder noch besser, den Teilbetrieb aufzulösen und alle in die Wüste zu schicken. Wer heute nach Sinn schreit, wird gefragt: "Was bringt er in Cash?" Wer eine Verbesserung vorschlägt, wird gefragt: "Wie viel spart das? Erspart es dich?" Wer nach Anerkennung lechzt, wird abgefertigt: "Sei froh, dass du Arbeit hast." Die Manager, die einst trieben, sind längst selbst Getriebene. Als sie selbst trieben, konnten die Mitarbeiter sich an ihnen reiben und streiten und streiken. Heute sitzt der Chef noch stärker zitternd unter den Stromschlägen neben ihnen. Die Mitarbeiter bedauern ihn.

Und nun! Tusch! Gong! Vorhang auf! Nun kommt die Welt mit Fanfarenklang zu uns und verkündet: "Innovation muss her! Deutschland muss ein blühendes Land werden! Wir wollen in Bildung investieren! Wir wollen mit Phantasie zu alter Stärke zurückfinden! Wir wollen wieder Sinn in unserer Arbeit spüren! Ein Kulturwandel muss her! Wir wollen alle gleich heute Nacht beginnen, uns mit Kindern zu segnen! Macht Optimismus!"

So fühlt es sich für die Hunde im Pawlow-Geschirr an, wenn man sie abkettet und ihnen den neuen Weg zeigt. Wie wenn befreite Gefangene sich mit der Hand gegen die blitzende Sonne schützen und einen ersten Schluck Wasser schlürfen.

Wir haben das Arbeiten ohne Ende und Anerkennung gelernt. Wir haben das Sparen, das Arbeitslossein, die Zukunftslosigkeit gelernt. Viele haben hunderte von Absagen auf Bewerbungen betrauert und sind apathisch geworden. Niemand kann sagen, welches Studium noch einigermaßen eine Arbeit garantiere.

Nun heißt es: Aufbruch Deutschland!

Wie aber kann man denn aufbrechen, wenn man die Phantasielosigkeit erlernt hat? Wenn man die Sehnsucht verlernt hat? Oder den Stolz auf die eigene Selbstwirksamkeit?

Ach, ich wünschte, wir hätten schon früher - lange vorher - den Optimismus erlernt.

Dann könnten wir aufbrechen.

Wenn wir aber apathisch sind, können wir die Predigten doch gar nicht hören! Hilfe! Man hätte uns den Optimismus vorher beibringen müssen! Als wir Kinder waren!

Leider brauchten wir nie Optimismus. Es ging uns gut. Und wir vertrauten.

Die Apathie ist das Wissen, dass es nie aufhört. Das Vertrauen ist sich gewiss, dass nichts beginnt.

Nun muss es aufhören. Nun muss es beginnen. Das sollten wir lernen. Ja, es könnte wie Optimismus sein.

Gunter Dueck

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